2. Tagung der VI. Generalsynode der VELK in der DDR
27. Juni 1986
Information Nr. 300/86 über die 2. Tagung der IV. Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche (VELK) in der DDR
Im Zeitraum vom 12. bis 15. Juni 1986 fand in Schwerin die 2. Tagung der IV. Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in der DDR statt, an der mit Ausnahme von Bischof Leich1 die zwei anderen Bischöfe sowie alle gewählten und berufenen Synodalen teilnahmen.
Als ausländische ökumenische Gäste wurden begrüßt: Pfarrer Roga/UdSSR,2 Evangelisch-Lutherische Kirche in Litauen, Oberkirchenrat Schmale/BRD,3 Lutherisches Kirchenamt der »VELKD« (BRD), Rektor a. D. Dräger/BRD,4 Vizepräsident der Generalsynode der »VELKD« (BRD), Dekan Mietz/Italien,5 Evangelisch-Lutherische Kirche in Italien, Pastorin Reuss/Österreich,6 zurzeit Halle/DDR, Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Österreich, Referent Kunkel/Brasilien,7 Vertreter des Lutherischen Weltbundes (LWB)/Genf.
Bei der Synodaltagung waren zeitweilig die westlichen Korrespondenten Röder/epd,8 Jennerjahn/dpa,9 Heber/ARD-Hörfunk10 und Funk/ZDF11 mit Aufnahmeteam anwesend.
Mit Ausnahme des Beitrages von Hans-Rolf Dräger/BRD trugen die Grußworte der anderen ökumenischen Gäste theologischen Charakter. Dräger verwies unter Bezugnahme auf die Friedensverantwortung der Kirchen in der DDR und in der BRD auf die Notwendigkeit, sich dafür einzusetzen, dass von deutschem Boden nie mehr Krieg, sondern Frieden ausgehe.
Sein Gesamtverhalten war von Versuchen gekennzeichnet, die VELK in der DDR auf die Linie der »Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland« festzulegen.
Im Mittelpunkt der Synodaltagung stand die Behandlung innerkirchlicher Fragen. Die langwierige Erörterung insbesondere solcher Probleme, wie die Übertragung der Aufgaben der VELK an den Bund der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR sowie des Fortbestandes bzw. der Auflösung der VELK in der DDR und der Kompromisscharakter dazu getroffener Festlegungen, widerspiegeln die krisenhafte Situation der drei Evangelisch-Lutherischen Gliedkirchen der VELK in der DDR, vor allem bezogen auf ihre künftige Struktur sowie eine gewisse Ausweglosigkeit hinsichtlich der Lösung anstehender aktueller innerkirchlicher Probleme.12
Im Unterschied zu vorangegangenen Synodaltagungen enthielt der Bericht des amtierenden leitenden Bischofs, Stier/Schwerin,13 auf der diesjährigen Generalsynode keine Aussagen zu den Grundfragen unserer Zeit. Obwohl die Synodalmaterialien Ansatzpunkte für politisch realistische Aussagen in der Diskussion zur Verantwortung der Christen im Kampf um die Erhaltung des Friedens boten, fand dies keine Beachtung.
Versuche einzelner Synodalen, während der Synodaldebatte Inhalte des Kommuniqués der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Staaten des Warschauer Vertrages14 einzubringen, blieben wirkungslos.15 Internen Hinweisen zufolge ist dies auf die Haltung Bischof Stiers zurückzuführen, Stellungnahmen zu derartigen Fragen bewusst zu umgehen.
Der Tätigkeitsbericht der Kirchenleitung der VELK in der DDR – vorgetragen durch Superintendent Große/Saalfeld16 – beinhaltete eine Aufzählung von Fakten über die seit der 1. Tagung der IV. Generalsynode (13. bis 16. Juni 1985) geleistete Arbeit. Obwohl der Bericht – wie bei vorausgegangenen Synodaltagungen – Aussagen über die »besonderen Beziehungen« zwischen der VELK in der DDR und der »VELKD«/BRD enthielt, wurde darin erstmalig darauf hingewiesen, dass es dabei »um Beziehungen zwischen zwei selbstständigen Kirchen geht, die in einem unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kontext leben und jeweils dort ihren Auftrag auszurichten haben«.17
Den Synodalen lag außerdem ein schriftlicher Bericht des Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes18 in der DDR vor, in dem u. a. informiert wird, dass in der DDR der Gedanke eines »Konzils des Friedens«19 angesichts der »weltweit bestehenden Überlebensbedrohung« vielfach spontane Zustimmung gefunden habe und deshalb die Durchführung einer ökumenischen Friedensversammlung in der DDR im Rahmen des sogenannten konziliaren Prozesses befürwortet wird.20
(Die Durchführung einer derartigen Veranstaltung im Zeitraum 1987/1988 war auf der 105. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL)21 in der DDR am 9./10. Mai 1986 beschlossen worden – siehe Information des MfS Nr. 240/86 vom 29. Mai 1986.)
Des Weiteren erhielten die Synodalen die schriftliche Stellungnahme einer Arbeitsgruppe der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR zur Thematik »gerechte und ungerechte« Kriege.22
Diese Vorlage resultiert aus einem im Jahre 1983 von der Generalsynode der VELK an die Kirchenleitung erteilten Auftrag, eine der Gegenwart entsprechende verbindliche kirchliche Interpretation des Augsburgischen Bekenntnisses vom Jahre 153023 zu vorgenannter Thematik zu erarbeiten.
In diesem Material wird u. a. zum Ausdruck gebracht, dass
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mit der Anwendung atomarer Waffen der Zustand eines gerechten Krieges nicht mehr gegeben sei,
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Christen die Pflicht haben, gegen den Erhalt atomarer Waffen auch zum Zwecke der Verteidigung aufzutreten, wenn damit »Gottes gute Ordnung« gefährdet werde.
Wörtlich heißt es darin: »Wenn durch Geist, Logik und Praxis der Abschreckung die Kriegsgefahr gesteigert und nicht vermindert wird, ist Waffengewalt als Mittel der Friedenssicherung und zum Schutz des Nächsten nicht mehr zu rechtfertigen. Christen, die den militärischen nicht mehr mit ihrem christlichen Gehorsam vereinigen können, haben Recht auf den Beistand der Kirche«.
Die Diskussion zum Tätigkeitsbericht der Kirchenleitung und zu den weiteren genannten schriftlichen Materialien beschränkte sich auf innerkirchliche Fragen. Die in den Vorlagen enthaltenen politischen Aussagen waren kein Diskussionsgegenstand.
Der vom amtierenden leitenden Bischof der VELK in der DDR, Stier, vorgetragene Bericht trug den Charakter eines Sachstandsberichtes und beinhaltete hauptsächlich Probleme im Zusammenhang mit der geplanten Vereinbarung zur Übertragung von Aufgaben der VELK an den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. (Die Frühjahrssynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens – 15. bis 19. März 1986 – hatte der geplanten Vereinbarung nicht zugestimmt, sodass sie nicht in Kraft treten kann.)24
Der Bericht ließ erkennen, dass in den Leitungsgremien der VELK in der DDR angesichts der ablehnenden Haltung der Landeskirche Sachsens zu der geplanten Vereinbarung Ratlosigkeit über den weiteren Entwicklungsweg der VELK und darüber herrscht, wie das angestrebte Ziel einer »intensiveren Gemeinschaft der evangelischen Kirchen in der DDR« ohne Auflösung der VELK und ohne Aufgabe der »Pflege der besonderen Gemeinschaft mit der VELKD/BRD« realisiert werden kann.
Die danach in geschlossener und offener Plenarsitzung stattgefundene Diskussion war geprägt durch den Austausch von Standpunkten und Meinungen zum Fortbestand bzw. zur Auflösung der VELK in der DDR.
Bezug nehmend auf die Inhalte von zwei während der Synodaltagung durchgeführten Andachten initiierte Bischof Hempel/Dresden25 in der Diskussion den Vorschlag zur Erarbeitung und Versendung eines Schreibens an den südafrikanischen Kirchenrat, in dem das Apartheidsystem26 verurteilt und den Christen in Südafrika die Unterstützung der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in der DDR versichert wird.
Dieser Brief wurde nach erfolgter Überarbeitung eines ersten Entwurfes von den Synodalen verabschiedet.
(Wortlaut des Briefes siehe Anlage 1)
Im Ergebnis der langwierigen Plenardebatten zur künftigen Struktur verabschiedete die Generalsynode mit 28 Stimmen bei drei Gegenstimmen eine »Tendenzaussage«, die ausgehend vom weiteren Fortbestand der VELK in der DDR darauf orientiert, die Aufgaben dieses kirchenleitenden Gremiums künftig weitgehend vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR wahrzunehmen.
Ein unter Bezugnahme auf diesen Beschluss von Oberkirchenratspräsident Müller/Schwerin27 eingebrachter Antrag, auf die Wahl eines leitenden Bischofs zu verzichten, wurde mit 23 Gegenstimmen bei sieben Befürwortungen und einer Stimmenthaltung abgelehnt.
Im Ergebnis der Wahlhandlung wurde Bischof Stier mit 30 Stimmen bei einer Stimmenthaltung zum leitenden Bischof der VELK in der DDR gewählt (Kurzauskunft zu Bischof Stier siehe Anlage 2).
Außerdem erfolgte die Nachwahl eines Vizepräsidenten der IV. Generalsynode. (Die auf der 1. Tagung der IV. Generalsynode gewählte Vizepräsidentin, Pastorin Katte/Fröttstädt,28 hatte aus persönlichen Gründen die Funktion nicht angenommen.) Als neuer Vizepräsident wurde mit einfacher Stimmenmehrheit Dozent Dr. Vogler/Leipzig29 gewählt. Er trat bisher in der Öffentlichkeit noch nicht in Erscheinung.
An dem Einführungsgottesdienst für Bischof Stier am 15. Juni 1986 nahmen ca. 120 Personen, darunter die Mitglieder der Generalsynode, teil.
In seiner überwiegend religiöse Themen beinhaltenden Predigt verwies Bischof Stier auch auf die Notwendigkeit des sich Abwendens aus der Abhängigkeit von Geld, Erfolg und Wohlstand und damit vom »Leistungszwang«. Er leitete daraus das Recht der Christen ab, sich »zu widersetzen«.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage 1 zur Information Nr. 300/86
»An den südafrikanischen Kirchenrat, zu Händen des Generalsekretärs, Dr. Beyers Naud«30
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Generalsynode der VELK in der DDR hat auf ihrer diesjährigen Tagung vom 12. bis 15. Juni 1986 in Schwerin anlässlich des 10. Jahrestages des Ereignisses von Soweto31 in besonderer Weise der Situation in Südafrika gedacht.
Wir haben den Ruf von Harare im Dezember 1985 gehört und aufgenommen.32 Mit Beendigung der ungerechten Herrschaft in Südafrika und für Gerechtigkeit und für Frieden, für alle Menschen, gebetet. Als Diener des einen Leibes Christis sind wir mitbetroffen, wenn Christen in Südafrika unter der ungerechten … Apartheid leiden.
Wir beklagen, dass wir so wenig tun können, um die Ursachen dieses Leidens zu beseitigen, dass wir zu wenig dagegen getan haben, wo wir es konnten, dass wir nicht stark genug betont haben, wo wir hätten sagen müssen, dass das Apartheidsystem Sünde ist, dass wir nicht konsequent und treu genug im Gebet gewesen sind.
Wir stellen uns hinter sie, die sie um ihre Anerkennung als Menschen, die nach dem Ebenbild Gottes erschaffen wurden, mit Gerechtigkeit … Wo es uns möglich ist, wollen wir sie, in ihrem Ringen, unterstützen, das System der Apartheid zu überwinden. Wir wollen für die beten, die dieses System unter großen Opfern erleiden müssen und für die, die es aus Angst und Verblendung aufrechterhalten wollen. Außerdem beten wir für die Kirchen, die durch das Apartheidregime gespalten sind.
Wir vertrauen auf den Sieg des für uns alle gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus.
In seinem Namen grüßen wir sie und alle unsere Schwestern und Brüder in ihren Kirchen.«
Anlage 2 zur Information Nr. 300/86
Kurzauskunft zu Bischof Stier, Christoph/Schwerin (45), wohnhaft Schwerin, [Straße, Nr.], Familienstand verheiratet, drei Kinder
Bischof Stier wurde in Magdeburg als vierter Sohn des Architekten Wolfgang Stier geboren. 1947 verzog die Familie nach Halle, wo Stier nach dem Besuch der Grund- und Oberschule 1959 die Abiturprüfung ablegte. Im gleichen Jahr nahm er ein Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock auf, das er 1964 abschloss.
Mit Wirkung vom 1. Oktober 1964 wurde er als wissenschaftlicher Assistent am damaligen Neutestamentlichen Institut der jetzigen Sektion Theologie der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock eingestellt. Er arbeitete an einer Promotion, die er jedoch nicht zum Abschluss brachte.
Am 11. Dezember 1970 schied Bischof Stier mit Aufhebungsvertrag aus der genannten Institution aus und übernahm anschließend bis 1977 das Pfarramt Rostock-Lichtenhagen.
Von 1977 bis 1984 war ihm von der Kirchenleitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs das Amt eines Studienleiters der Akademiearbeit übertragen worden.
Auf der Frühjahrssynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs wurde Stier zum Landesbischof gewählt. Am 30. Juni 1984 erfolgte seine offizielle Einführung in das Bischofsamt.
Darüber hinaus ist er Mitglied der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) und seit dem 15. Juni 1986 neuer leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in der DDR.
Mit der inhaltlichen Ausrichtung seiner Predigt anlässlich seiner Amtseinführung am 30. Juni 1984 setzte Stier Zeichen für sein zukünftiges Wirken als Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, indem er unter anderem ausführte, dass ein wesentlicher Aspekt seiner Amtseinführung das Eintreten für diejenigen Menschen sei, die in Bedrängnis geraten sind und in der Gegenwart zunehmenden Belastungen ausgesetzt werden, wobei er konkreten Bezug nahm auf angeblich vorhandene Probleme der Christen mit Teilbereichen der sozialistischen Gesellschaftsordnung, wie Volksbildung, sozialistische Wehrpolitik, Umweltschutzpolitik.
Ausgehend von seinem bisherigen Wirken als Landesbischof kann festgestellt werden, dass
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Stier im Ergebnis vielfältiger politisch offensiver Einflussnahme und unter Beachtung seines theologischen und kirchenpolitischen Selbstverständnisses zunehmend bemüht ist, die Beziehungen Staat-Kirche von Belastungen freizuhalten,
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der tatsächliche Einfluss des Stier auf die kirchenpolitische Entwicklung der Landeskirche, seine konkrete Position zu einzelnen feindlich-negativen Kräften sowie seine persönlichen Vorstellungen zu bestimmten Problemen der weiteren Ausgestaltung des Verhältnisses Staat-Kirche im Territorium noch als labil und schwankend einzuschätzen ist.
Stier vertrat unter anderem in Gesprächen im Staatssekretariat für Kirchenfragen sachliche und loyale Positionen und berücksichtigte auch entsprechende staatliche Erwartungshaltungen in seiner Amtsführung.
So nahm Stier persönlich Einfluss auf die Disziplinierung feindlich-negativer Kräfte, die beabsichtigten, einzelne Synodaltagungen der X. Ordentlichen Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs sowie Veranstaltungen im Rahmen der Friedensdekade33 1984/85 für gegen die sozialistische Staats-, Gesellschafts- und Rechtsordnung gerichtete Aktivitäten zu missbrauchen.
Andererseits weigerte sich Bischof Stier, gegenüber reaktionären kirchlichen Kräften seines Amtsbereiches von staatlichen Organen geforderte Disziplinierungsmaßnahmen einzuleiten.
Bei den Volkswahlen am 8. Juni 1986 trat Stier als Nichtwähler in Erscheinung.