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Aufenthalt des Generalsekretärs des ÖRK in der DDR

4. Dezember 1986
Information Nr. 548/86 über den Aufenthalt des Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Dr. Emilio Castro/Uruguay, in der DDR

Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen hielt sich der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen,1 Dr. Emilio Castro/Uruguay,2 einer Einladung des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR folgend, im Zeitraum vom 14. bis 18. November 1986 zu einem Besuch von Gliedkirchen des BEK in mehreren Orten der DDR auf.

Er nahm in diesem Zusammenhang u. a. an Beratungen der X. Tagung der X. Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs in Schwerin (Information des MfS Nr. 538/86 vom 2. Dezember 1986) sowie an Gottesdiensten und weiteren kirchlichen Veranstaltungen im Rahmen der »Friedensdekade 1986«3 in den Bezirken Schwerin und Magdeburg (Information des MfS Nr. 537/86 vom 27.11.1986) teil. Die Inhalte seiner Vorträge und Diskussionsbeiträge waren charakterisiert durch Sachlichkeit und politischen Realitätssinn. Castro verurteilte vor allem das SDI-Programm der USA,4 verwarf Vorstellungen über einseitige Abrüstung als illusionär und befürwortete die Friedensinitiativen der Sowjetunion5 bei Würdigung der Rolle des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow.6 Er informierte umfassend über die Aufgaben des ÖRK und begründete insbesondere die Politik der aktiven Solidarität durch den ÖRK, vor allem gegenüber den Kirchen der »Dritten Welt«. Castros Auftreten war insgesamt mitgeprägt von Positionen der »Theologie der Befreiung«.7

Die in seinem öffentlichen Auftreten sichtbar gewordene realistische Haltung widerspiegelte sich auch im Rahmen von internen Gesprächen mit evangelischen Bischöfen und Mitgliedern der Konferenz Evangelischer Kirchenleitungen (KKL)8 in der DDR. Deutlich wurden dabei Bestrebungen Castros, auf seine Gesprächspartner im Sinne von Orientierungen für die Profilierung der Evangelischen Kirchen in der DDR und die Gestaltung der kirchlichen Arbeit des ÖRK einzuwirken. Dazu wurde dem MfS streng vertraulich bekannt:

Die Mitwirkung der Evangelischen Kirche in der DDR im Rahmen der Ökumene und besonders des ÖRK wertete Castro positiv. Seiner Auffassung nach käme es künftig darauf an, dass sie »die Frage ihrer Identität als nationale Kirche« stärker herausarbeiten sollte.

Der ÖRK gehe davon aus, dass die Evangelischen Kirchen in der DDR und der BRD »Kirchen von Dauer« seien und sich die Evangelische Kirche in der DDR zunehmend deutlicher darüber Klarheit verschaffen müsse, welche Kirche sie sein wolle; seiner Auffassung nach sei sie »Kirche im Sozialismus«9 und sollte davon ausgehend gegenüber westlichen Mitgliedskirchen des ÖRK ihre Eigenständigkeit auch beweisen.

Castro orientierte darauf, die Evangelische Kirche in der DDR solle ihre ökumenischen Beziehungen zu Kirchen in der »Dritten Welt« intensivieren, vor allem in marxistisch orientierten Staaten. Dabei käme es vor allem darauf an, diesen Kirchen am konkreten Beispiel die Existenzmöglichkeit der Kirche in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu demonstrieren.

Darüber hinaus – so stellte Castro fest – müsse sich die Evangelische Kirche in der DDR aufgrund ihrer Stellung in ihrem Staat verstärkt in das ÖRK-Programm für den Dialog mit den Marxisten integrieren. Castro vertrat den Standpunkt, dieses Programm käme nicht zum Tragen, solange Kirchen im Dialog mit den Marxisten die kapitalistische Ideologie verbreiten. Er habe veranlasst, dass sich der »Genfer Stab« des ÖRK mit einer Korrektur dieses Programmes befasst.

Ungeachtet der aktiven und verantwortungsbewussten Mitwirkung der Evangelischen Kirche in der DDR und ihrer Vertreter im Rahmen des ÖRK sei kritisch zu vermerken, dass diese in ungenügendem Maße Themen zur Problematik »Kirche im Sozialismus« in die Arbeit einbringen.

Seiner Auffassung nach bedeute »Kirche im Sozialismus« – und darauf müsse die Evangelische Kirche hinwirken –, für den Sozialismus zu sein und sich dazu in einem Positionspapier klar zu artikulieren.

Das verlange andererseits jedoch auch, dem Staat zu sagen, wo es Hindernisse auf dem Weg zum Sozialismus gebe. So müsse sich z. B. die Kirche in der DDR gegen die Stationierung von Massenvernichtungswaffen in der BRD aussprechen, gleichzeitig aber auch auf das Problem der Stationierung von Atomwaffen in der DDR eingehen. Eine solche Haltung wäre ein Beweis für »kirchliche Selbstständigkeit« und würde möglichen Bestrebungen »staatlicher Vereinnahmung« entgegenwirken.

Ziel von Gesprächen mit dem Staat sollte es sein, konkrete »Fälle« anzusprechen, nicht aber »Grundsatzkonflikte« herbeizuführen. Kirchlicherseits solle man dabei »ehrlich« vorgehen. Öffentliche Diskussionen sollten dann nicht gescheut werden, wenn der Staat »öffentliche Dinge unternimmt«, die von ihrem Charakter her gegen den Sozialismus gerichtet zu verstehen seien (u. a. Verhaftung von Jugendlichen, die gegen den Krieg demonstrieren).

Castro schätzte in seinen Gesprächen – aus der Sicht des »Genfer Stabes« des ÖRK – die Situation im Zusammenhang mit dem von der Vollversammlung des ÖRK in Vancouver/Kanada 1983 initiierten konziliaren Prozess für das geplante internationale kirchliche Friedenskonzil ein.10 Danach strebe der ÖRK danach, mit der weltweiten Konzil-Bewegung Impulse für eine Allianz aller christlichen Kirchen unter solchen Aspekten zu setzen wie

  • Solidarität zwischen den Kirchen,

  • Ingangbringung eines Erziehungsprozesses zur Versöhnung sich konträr gegenüberstehender Gruppierungen,

  • Abfassung theologisch klarer Aussagen zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Man sei sich im ÖRK darüber einig, dass im Ergebnis des kirchlichen Friedenskonzils ein »Dokument des Kompromisses« entstehen sollte, dessen Betonung eindeutig auf der Friedensproblematik liegen müsse. In diesem Sinne müssten auch die bisherigen »Widerstände der katholischen Kirche« überwunden werden. Die Kirchen in den KSZE-Unterzeichnerstaaten,11 insbesondere jedoch die in den sozialistischen Ländern, sollten stärker als bisher »Fragen des Friedens« an die erste Stelle rücken und nicht vordergründig »Fragen der Gerechtigkeit« behandeln. Ganz anders sei dagegen die Situation in den Ländern der »Dritten Welt«, wo die »Fragen der Gerechtigkeit« tatsächlich von primärer Bedeutung wären.

Castro äußerte sich überzeugt hinsichtlich der Teilnahme der katholischen Kirche am Friedenskonzil, wies aber auf den »möglichen Preis des ÖRK für einzugehende Kompromisse« hin. Seiner Meinung nach sei jedoch die Sache des Friedens wichtig genug, um »hohe Preise zu zahlen«. Für den ÖRK wäre sowohl die Präsenz des Vatikans als auch der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) und der amerikanischen Kirchen auf diesem Forum von großer Bedeutung. Hinsichtlich der katholischen Kirche müsse der ÖRK besonders sowohl den politischen Einfluss der USA auf den Vatikan als auch unterschiedliche Standpunkte zwischen einzelnen nationalen katholischen Bischofskonferenzen beachten. Sollte der Vatikan bei seinen Einwänden bleiben, plädiere man im ÖRK dafür, anstelle einer weltweiten Versammlung für die Durchführung sogenannter autonomer oder regionaler Zusammenkünfte einzutreten.

In diesem Zusammenhang äußerte Castro Überlegungen über die Zweckmäßigkeit eines Treffens zwischen maßgeblichen Vertretern der Katholischen und Evangelischen Kirchen in der DDR. Ein solches Treffen im Jahre 1987 würde sich günstig auf die weitere Vorbereitung einer Weltversammlung unter Teilnahme der katholischen Kirche auswirken, da es – gewissermaßen als Präzedenzfall – »einen gewissen Druck auf Rom« ausüben würde.

(Nach dem MfS streng intern vorliegenden Hinweisen sei Castro diesbezüglich von kirchlichen Würdenträgern der Evangelischen Kirche gebeten worden, in diesem Sinne auf Kardinal Meisner12 Einfluss zu nehmen.)

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

  1. Zum nächsten Dokument Mindestumtausch 24.11.–30.11.1986

    4. Dezember 1986
    Information Nr. 549/86 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 24. November 1986 bis 30. November 1986

  2. Zum vorherigen Dokument Reaktionen der Bevölkerung auf die 3. Tagung des ZK der SED

    2. Dezember 1986
    Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die 3. Tagung des ZK der SED [O/169]