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Blues-Messen in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg (1)

6. Juni 1986
Information Nr. 268/86 über die erneute Durchführung von sogenannten Blues-Messen am 1. Juni 1986 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg

In Weiterführung der Veranstaltungsreihe »Blues-Messen«1 im Bereich der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg wurden am 1. Juni 1986 von ca. 15.00 Uhr bis gegen 20.00 Uhr unter dem Motto »Rückgrat gefragt« mit einer Gesamtteilnehmerzahl von ca. 550 Jugendlichen im Alter von 16 bis 25 Jahren (1984 = 2 500, 1985 = 1 600 Personen) insgesamt zwei aufeinanderfolgende derartige Veranstaltungen gleichen Inhalts mit bis zu 300 Teilnehmern je Veranstaltung in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg durchgeführt.

Die bereits im Jahre 1985 erkennbare rückläufige Tendenz hinsichtlich der Beteiligung setzte sich in weit umfassenderem Maße fort; gegenüber zurückliegenden Veranstaltungen, bei denen in der Regel drei bis vier »Blues-Messen« aufeinanderfolgten, waren es in diesem Jahre nur zwei. Die Veranstalter zeigten sich nach intern vorliegenden Hinweisen in ihren Erwartungen hinsichtlich des Resultates der Gesamtveranstaltung enttäuscht. Die Gründe werden – bei Außerachtlassung der Wirkung gezielter langfristiger gesellschaftlicher Einflussnahme auf Teilnehmer an vorangegangenen »Blues-Messen« – u. a. in dem für das »typische Blues-Messen-Publikum« politisch ungenügend aussagefähigen Inhalt der Veranstaltung, in noch vorhandenen Verunsicherungen im Ergebnis der Verlegung dieser Veranstaltung im Jahre 19852 sowie in einer Reihe von organisatorischen Fragen gesucht.

Inhalt, Verlauf und erkennbare Ergebnisse der »Blues-Messen« – eindeutige und offene politische Aussagen wurden vermieden; die Teilnehmer wurden nur geringfügig im Sinne der Inspirierung zu oppositionellen Auffassungen und Haltungen gegen den Staat beeinflusst; aktuelle Angriffsrichtungen und provokatorisch-demonstrative Forderungen feindlich-negativer Kräfte im Zusammenhang mit der Friedens- und Menschenrechtsproblematik sind nur indirekt in den Inhalten erkennbar – widerspiegeln die gegenwärtige Haltung und Auffassung bzw. den Einfluss kirchenleitender Amtsträger zu dieser bzw. auf diese Veranstaltung. Im Gegensatz zu dem im Mai 1985 gefassten Beschluss der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, demzufolge die »Blues-Messen« eindeutig als »Arbeitszweig des kirchlichen Dienstes und der kirchlichen Jugendarbeit« festgelegt worden waren, richteten sich nach intern vorliegenden Informationen die Bemühungen u. a. von Generalsuperintendent Krusche3 darauf, diese Veranstaltungen generell abzusetzen. So hat er in einem Schreiben vom April 1986 an die »Begleiter-Gruppe der Blues-Messen« die bereits zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Texte einer scharfen Kritik unterzogen.4 Als Voraussetzung für die Durchführung der geplanten Veranstaltung nannte er »deutlichere« inhaltliche und textliche Veränderungen. Der seit November 1985 wirksame »Vorbereitungskreis« der »Blues-Messen« (die Pfarrer Eppelmann,5 Pahnke,6 Hülsemann7 sowie Propst Winter)8 sah sich im Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Kirchenleitung veranlasst, das Motto der Veranstaltung zu ändern, das geplante Außenprogramm zu streichen sowie inhaltliche Kürzungen des Programms vorzunehmen.

Die mit dem Ziel einer möglichen Absetzung bzw. der vorbeugenden Verhinderung des politischen Missbrauchs der »Blues-Messen« systematisch geführten Gespräche von Vertretern zuständiger staatlicher Organe mit Vertretern der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg sowie mit Mitgliedern des »Vorbereitungskreises« erbrachten die beabsichtigte Wirkung (es kam auch zu keinen rowdyhaften oder anderweitigen, die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Erscheinungen auf dem Gelände der Erlöserkirche bzw. in deren unmittelbaren Umfeld) und unterstützten die Haltung derjenigen Kräfte in der Kirchenleitung, die für eine Absetzung der Veranstaltung eintreten. Der staatlichen Erwartungshaltung wurde durch die Kirchenleitung in Vorbereitung und Durchführung der »Blues-Messen« weitestgehend entsprochen; der Verlauf der Veranstaltung wurde u. a. durch die Mitglieder der Kirchenleitung, Pfarrer von Essen9 und Propst Winter, den Ausbildungsdezernenten und künftigen Beauftragten für diese Veranstaltungsreihe, Oberkonsistorialrat Schröter,10 Stadtjugendpfarrer Hülsemann und Superintendentin Laudien11 beobachtet und kontrolliert.

Während der »Blues-Messen« hielt sich der in der DDR akkreditierte Korrespondent des Evangelischen Pressedienstes (epd) der BRD, Röder,12 im Veranstaltungsgelände auf.

Zum Inhalt und Verlauf der »Blues-Messen« wurde dem MfS streng vertraulich bekannt:

Die »Blues-Messen« am 1. Juni 1986 entsprachen in ihrer Gestaltungskonzeption dem bei allen vorangegangenen Veranstaltungen dieser Reihe praktizierten Muster. Es wurde eine durch Musikteile verbundene Folge verschiedener Programmpunkte (Begrüßung, Anspiele, Predigt, Segen, Kollekten-Information, Fürbitte und Verabschiedung) dargeboten. Als Darsteller in den Sketchen bzw. als Sprecher fungierten Pfarrer Rainer Eppelmann, Stadtjugendwart Karin Bogan13 sowie die Sozialdiakone Ralph Syrowatka,14 Lorenz Postler15 und Gerd Jäger.16 Die von der Kirchenleitung bestätigten und verwendeten Sprechtexte wurden im Wesentlichen durch die Pfarrer Eppelmann und Pahnke sowie die Sozialdiakone Syrowatka und Postler verfasst. (Die genannten Texte liegen dem MfS im Wortlaut vor und können bei Bedarf abgefordert werden.)

Ausgehend vom Motto der Veranstaltung, »Rückgrat gefragt«, zielte das Programm darauf ab, das Problem der sogenannten Zivilcourage deutlich zu machen, d. h. die Teilnehmer zum Nachdenken über diesen Begriff, zur Diskussion hinsichtlich diesbezüglicher »Erfahrungen« zu bewegen und zu »couragierten Haltungen« im täglichen Leben zu befähigen.

Dabei wurden Probleme der Verwirklichung der sozialistischen Demokratie (u. a. Umgang mit Mitarbeitern staatlicher und kommunaler Organe) in den Mittelpunkt gestellt, jedoch weitgehend provokative Zuspitzungen und Aussagen hinsichtlich der Inspirierung/Initiierung demonstrativer Verhaltensweisen vermieden.

Im Einführungsgebet (Eppelmann und Syrowatka) wurde versucht, auf den Inhalt der Veranstaltung einzustimmen. Im Text wurde der »Herr« gebeten, Kraft zu verleihen, um im Leben »Rückgrat« gegen verschiedene Erscheinungen im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich entwickeln zu können. In diesem Zusammenhang wurden u. a. als kritik- bzw. veränderungswürdige Zustände genannt: dass es »DDR-typisch« sei, die Klappe zu halten, dass man »Weisungen staatlicher Behörden als richtig zu sehen habe, auch wenn sich … (das) Innerste dagegen sträubt«, dass »einige Freunde zur Armee mussten, obwohl sie gegen Waffengewalt sind«, dass die Menschen Atomwaffen und Atomkraftwerke bauen. Ferner wurde gebeten, Menschen und Freunde zu finden, die einem zeigen, wie man ein Rückgrat bekommt. Schließlich erging die Bitte an den »Herrn«, einem die Kraft zu geben, um die mit dem Rückgratzeigen verbundenen Schmerzen (gemeint ist das Erdulden von Repressalien) auszuhalten.

Den Schwerpunkt der Sprechtexte bildete ein Block von drei Anspielen, die durch einen sogenannten Sprechgesang miteinander verbunden wurden. Die Zuschauer werden aufgefordert, mit dem »aufrechten Gang« anzufangen. Es wird der Eindruck vermittelt, dass sich dieser Prozess umso schneller und leichter vollziehe, je eher man damit beginne bzw. sich daran beteilige.

In den Anspielen »Wohnungssuche«, »Hochzeitsreise« und »Rohrbruch« wurde die Tätigkeit der Organe für Wohnraumlenkung, des Reisebüros, der Kommunalen Wohnungsverwaltung sowie des Gaststättenwesens zum Anlass genommen, auf »Missstände« hinzuweisen und gegenüber diesen »Missständen« »Rückgrat« zu zeigen.

Die Predigt Eppelmanns beinhaltete eine biblische Geschichte (Gleichnis zum »kanaanäischen Weib«)17 mit der Aussage, man könne ein Ziel nur bei Beharrlichkeit und ohne Angst erreichen. Eppelmann forderte seine Zuhörer auf, sich »für mehr Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Menschlichkeit« einzusetzen, auch wenn schnelle Erfolge nicht zu erwarten seien. Unter Hinweis auf die im Gegensatz zu vor 100 Jahren wesentlich kürzere Arbeitszeit, des heute selbstverständlichen Kranken-, Kinder- und Urlaubsgeldes erklärte er, dass die jetzt Lebenden das ernten, was vorherige Generationen gesät haben. Daraus leitete er die Verpflichtung ab, heute ebenso für die Nachkommen zu säen.

Im Fürbitte-Gebet bzw. im Segenswort wurde an den »Herrn« die Bitte gerichtet, im Sinne der vorher gemachten Aussagen Kraft und Unterstützung beim Einüben und Durchstehendes »aufrechten Ganges« zu gewähren. Es wird um die notwendige Ausdauer und Phantasie sowie den Mut für das Überwinden dabei unvermeidlicher Schwächen und Probleme gebeten.

Die für die Veranstaltung typische Bluesmusik wurde durch eine aus sechs Personen bestehende Gruppe gespielt, die ausschließlich für diesen Auftritt formiert wurde. Der Gesang zur Bluesmusik erfolgte ausschließlich in englischer Sprache und trug keinen erkennbaren politischen Inhalt.

Einbezogen wurde mit dem wegen seines politisch negativen Verhaltens hinlänglich bekannten Stephan Krawczyk18 erstmalig ein sogenannter Liedermacher. In den nach überwiegend eigenen Texten und eigenen Kompositionen vorgetragenen Liedern äußerte sich Krawczyk gegen die Wehrerziehung der Kinder,19 gegen sozialpolitische Maßnahmen in der DDR und rief zum »Zusammenschluss« auf, um gemeinsam gegen staatliche Stellen und deren Entscheidungen vorgehen zu können.

Auf während der Veranstaltung zur Verteilung gekommenen Papieren wurde auf die Auswertung der »Blues-Messen« am 8. Juni um 18.00 Uhr in der Samariterkirche Berlin und die geplanten »Blues-Messen« am 21. September 1986 sowie auf eine Veranstaltung zum Thema »Kernkraft« am 28. Juni 1986 in der Kirchengemeinde Berlin-Friedrichsfelde hingewiesen.

Auf dem Gelände der Erlöserkirche wurde zeitweilig eine Unterschriftensammlung durch Teilnehmer aus Guben zur Unterstützung der Länder in der Dritten Welt durchgeführt.

Es wird vorgeschlagen, die erarbeiteten Hinweise über die »Blues-Messen« in differenzierter Form mit für die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg zuständigen Mitarbeitern staatlicher Organe auszuwerten mit dem Ziel, den Prozess zur endgültigen Absetzung der »Blues-Messen« systematisch fortzuführen und dabei insbesondere diejenigen Kräfte in der Kirchenleitung zu unterstützen, die ebenfalls diese Absicht verfolgen.

(Die Ernsthaftigkeit der Bemühungen kirchenleitender Kräfte in dieser Hinsicht unterstrich Generalsuperintendent Krusche am 28. Mai 1986 auf dem Generalkonvent des Sprengels Berlin, indem er sich vor den dort anwesenden Pfarrern gegen die Fortsetzung von Veranstaltungen wie sogenannten Blues-Messen und Friedenswerkstätten aussprach.)

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

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    6. Juni 1986
    Information Nr. 274/86 über die weitere Durchsetzung der Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit im grenzüberschreitenden Verkehr nach und von Westberlin

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    6. Juni 1986
    Information Nr. 263/86 über die 3. ordentliche Tagung der 6. Synode der Evangelischen Kirche der Union (EKU) – Bereich DDR – vom 23. bis 25. Mai 1986 in Potsdam