Blues-Messen in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg (2)
23. September 1986
Information Nr. 442/86 über die erneute Durchführung einer sogenannten Blues-Messe am 20. September 1986 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg
In Weiterführung der Veranstaltungsreihe »Blues-Messen«1 im Bereich der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg wurde am 20. September 1986 von ca. 16.30 bis gegen 17.15 Uhr unter dem Motto »Die betrogenen Bürger« mit einer Teilnehmerzahl von ca. 400 Personen überwiegend im Alter von 16 bis unter 25 Jahren eine weitere derartige Veranstaltung in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg durchgeführt.
Mit dieser Veranstaltung setzte sich die rückläufige Tendenz dieser Veranstaltungsreihe weiter fort. So fanden in den zurückliegenden Jahren in der Regel drei bis vier »Blues-Messen« aufeinanderfolgend statt; während der »Blues-Messen« am 1. Juni 1986 waren es nur noch zwei aufeinanderfolgende Veranstaltungen. (Teilnehmerzahlen 1984 = 2 500, 1985 = 1 600, 1. Juni 1986 = 550, 20. September 1986 = 400 Personen). Durch die Organisatoren der »Blues-Messen« war beabsichtigt, im Falle eines größeren Besucherandranges am 20. September 1986 zwei aufeinanderfolgende Veranstaltungen durchzuführen. Da sich nach Ablauf der ersten Veranstaltung keine Personen mehr im Gelände der Erlöserkirche aufhielten, nahmen sie davon Abstand.
Entgegen den Bemühungen einiger kirchenleitender Kräfte der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, keine weiteren Veranstaltungen dieser Art mehr durchzuführen, konnten die Organisatoren den Gemeindekirchenrat der Erlöserkirche dahingehend beeinflussen, erneut die Zustimmung für die Durchführung dieser »Blues-Messen« zu gewähren.
Vorliegenden internen Hinweisen zufolge bemühte sich die Kirchenleitung darum, durch stärkere Einflussnahme auf Textvorlagen den religiösen Charakter der Veranstaltung zu erhöhen. Diese Bestrebungen wurden jedoch durch die Organisatoren zum Teil unterlaufen.
Inhalt und Verlauf der »Blues-Messe« machten deutlich, dass direkte und offene Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung unterblieben. Dennoch wurde im Rahmen einzelner Programmteile unterschwellig wiederholt versucht, die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR insbesondere unter Bezugnahme auf sogenannte Alltagsprobleme herabzuwürdigen. Derartige politisch negative Aussagen wurden von den Teilnehmern mit Zustimmung aufgenommen und mit Beifall bedacht.
Zum Inhalt und Verlauf der »Blues-Messe« wurde dem MfS streng vertraulich bekannt:
Die Veranstaltung wurde in der bisher üblichen Folge von Bluesmusik, Begrüßung, Anspiel, Klagepsalm, Predigt, Segen, Fürbitte gestaltet.
Organisiert und vorbereitet wurde die Veranstaltung von den bereits bei früheren »Blues-Messen« in Erscheinung getretenen und hinlänglich bekannten Pfarrer Rainer Eppelmann,2 Stadtjugendwart Karin Bogan,3 Friedhofsarbeiter Ralf Hirsch,4 Sozialdiakon Norbert Brennig5 und Sozialdiakon Ralf Syrowatka.6
Als Sprecher traten während der Veranstaltung Eppelmann, Bogan, Brennig, Syrowatka sowie Jugendwart [Vorname Name] auf.
Die Bluesmusik wurde durch zwei Musiker der Gruppe Georg Kameniczny /Falkensee7 gestaltet.
Wie bereits während der »Blues-Messen« am 1. Juni 19868 trat der hinlänglich bekannte sogenannte Liedermacher Stephan Krawczyk9 im Laufe des Programms erneut auf; diesmal mit zwei eigenen Texten/Kompositionen (»Jugendlied« und »Bonzenlied«) und mit einem Lied von Wolf Biermann.10
Die von Krawczyk vorgetragenen Lieder beinhalteten politisch negative Aussagen zu gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR. (Krawczyk hatte sich geweigert, seine Texte vor der »Blues-Messe« der Kirchenleitung vorzulegen.)
Vor dem »Aufbaulied« von Biermann wurde durch Krawczyk betont, vor zehn Jahren sei die »Ausweisung« von Biermann aus der DDR erfolgt, und dieser werde heute durch die staatliche Geschichtsschreibung »totgeschwiegen«.
(Bemerkenswert ist, dass auf einem Anschlag im Kirchengelände der Erlöserkirche für den Besuch von 15 weiteren Auftritten des Krawczyk in Kirchen der Hauptstadt der DDR in der Zeit von September bis Dezember 1986 geworben wurde.)
Die mit verteilten Rollen vorgetragenen Anspiele und Dialoge beinhalteten, dass Jugendliche in Familie, Schule, Lehre und Beruf »zu Lüge und Unehrlichkeit erzogen werden«, ihnen das Recht auf eigene Meinung verwehrt und von ihnen Anpassung gefordert werde. Die Teilnehmer wurden aufgefordert, »sich wiederzuerkennen«, verantwortungsbewusst mit der Wahrheit umzugehen, auch wenn von »öffentlichen Gebäuden und Massenmedien Unwahrheit ausgeht«.
Kritisiert wurde die erfolgsorientierte Berichterstattung der Zeitungen; der Stand der Planerfüllung sowie die Erfüllung des Wohnungsbauprogramms wurden angezweifelt.
Ausgehend vom Thema der Veranstaltung »Die betrogenen Betrüger« waren die verwendeten Texte weiter darauf gerichtet, angebliche Probleme der Unehrlichkeit, der Intrigen und Lügen, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen in allen Bereichen der privaten Sphäre sowie des gesellschaftlichen Lebens bestehen würden, hervorzuheben. So wurde in dem durch Eppelmann vorgetragenen Klagepsalm suggeriert, Eigenschaften wie Vertrauen, Freundschaft, Liebe, Wahrheit und »Rückgrat« existierten nicht mehr bzw. seien zerbrochen. Darüber hinaus beinhalteten Sprechtexte zahlreiche pessimistische Grundaussagen, u. a. bezogen auf das Alltagsleben in der DDR. So wurde u. a. verwiesen auf »den Schwindel, dem man täglich begegnet« sowie auf »das leere Stroh, das gedroschen wird«, wobei global auf Veröffentlichungen in DDR-Massenmedien, darunter auf »Planerfüllungsmeldungen mit spitzem Bleistift«, auf Mängel und Schwierigkeiten im Baugeschehen (Rekonstruktionsbauten), auf Schwarzmarktpreise sowie auf die »Bequemlichkeit, die man sich dadurch erwirkt, indem man mitzieht«.
Verbrämt wurden in einigen Passagen – vorgetragen von Syrowatka und Stadtjugendpfarrer Hülsemann11 – herabwürdigende Aussagen getroffen, u. a. zu Problemen der »Soli-Marken«,12 der »Friedensschichten«13 sowie der angeblich zunehmenden Unaufrichtigkeit. Letzteres sei zu einem »Kreislauf« geworden, in dem viele mitmachten mit »angelernten Überzeugungen« … »in einem Treibhaus unter Intensivbestrahlung«. Hervorgehoben wird, es sei besser zu schweigen und die Lüge zu verweigern. Zukunft habe aber auch, »im frischen Wind des Streits unterschiedliche Meinungen« zu äußern; dazu »brauchen wir sichtbare Vorbilder, keine Kinohelden«.
Während der »Blues-Messe« wurde kein Termin für eine weitere derartige Veranstaltung genannt.
Es wird vorgeschlagen, Inhalt und Verlauf der »Blues-Messe« mit den zuständigen Mitarbeitern staatlicher Organe in der Hauptstadt der DDR auszuwerten mit dem Ziel, verstärkt Einfluss auf die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg auszuüben, diese Veranstaltungsreihe endgültig abzusetzen, da sie von feindlich-negativen Kräften fortgesetzt zu Angriffen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR missbraucht wird, die das Verhältnis Staat-Kirche belasten.
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