Entwicklung der Besuchsreisen nach neuen Reiseregelungen
[ohne Datum]
Information Nr. 270/86 über die Entwicklung der Lage bei Reisen von Bürgern der DDR in dringenden Familienangelegenheiten nach dem nichtsozialistischen Ausland und einige damit im Zusammenhang stehende beachtenswerte Probleme
Nach dem MfS vorliegenden Erkenntnissen ist das Ziel der zentralen Entscheidung vom 10. Dezember 1985, durch flexiblere und mit hohem politischen Verantwortungsbewusstsein und Feingefühl zu treffende Reiseentscheidungen einen weiteren Beitrag zur Festigung des Vertrauensverhältnisses der Bürger der DDR zur Partei und unserem sozialistischen Staat zu leisten, insgesamt erreicht worden.1
Wesentliche Voraussetzung dafür war die gründliche und gewissenhafte Vorbereitung und Abstimmung der entsprechenden internen dienstlichen Bestimmungen und Weisungen zwischen dem Ministerium des Innern und dem Ministerium für Staatssicherheit, die gemeinsame, auf der Grundlage zentraler Beschlüsse erfolgte Einweisung der Kräfte beider Organe sowie die von hoher Einsatzbereitschaft und flexiblem Handeln gekennzeichnete Arbeit aller in die Realisierung der gestellten Aufgaben und Maßnahmen einbezogenen Kräfte vor Ort.
Seit Inkrafttreten der internen, nicht veröffentlichten Regelungen zur Erweiterung der Genehmigungsmöglichkeiten für die Durchführung von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten mit Wirkung vom 1. Februar 1986 ist in allen Bezirken und in der Hauptstadt der DDR, Berlin, ein erheblicher Anstieg von entsprechenden Reiseersuchen bei den dafür zuständigen Dienststellen des Pass- und Meldewesens der Deutschen Volkspolizei zu verzeichnen.
Dazu folgende Übersicht:
Im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 1986 wurden durch Bürger der DDR insgesamt 152 853 (68 728)* Ersuchen auf Ausreisen in dringenden Familienangelegenheiten nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin gestellt, was gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres einen Anstieg um 122,1 % entspricht.
* [Fußnote im Original: »Zahl in Klammer bezieht sich auf den Vergleichszeitraum 1. Januar bis 31. Mai 1985«]
Davon ersuchten 48,5 % um Ausreisen gemäß der Anordnung vom 15. Februar 1982 (75 788 Bürger) und 51,5 % um Ausreisen, ohne dass die Voraussetzungen gemäß der Anordnung vom 15. Februar 1982 vorlagen (7 065 Bürger).
Von den bei der Deutschen Volkspolizei zur Entscheidung vorliegenden 152 853 Ersuchen auf Ausreise in dringenden Familienangelegenheiten wurden 143 635 Ersuchen genehmigt, darunter 72 726 gemäß den erweiterten Möglichkeiten vom 1. Februar 1986 und 9 218 Ersuchen auf der Grundlage der festgelegten Kriterien aus Sicherheitsgründen bzw. wegen fehlender Voraussetzungen abgelehnt, darunter 4 339, bei denen keine Voraussetzungen gemäß den erweiterten Möglichkeiten vom 1. Februar 1986 vorlagen.
Im Ergebnis der systematischen Anwendung der erweiterten Genehmigungsmöglichkeiten – aber auch ausgelöster Erwartungshaltungen von Bürgern aufgrund ständiger Verlautbarungen in westlichen Massenmedien über »offenbar erweiterte Reisemöglichkeiten« – stieg die Anzahl der Personen, die entsprechende Reiseersuchen stellten, sprunghaft an.
Die Ersuchen entsprechend den erweiterten Genehmigungsmöglichkeiten entwickelten sich wie folgt:
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Februar 1986 7 047 DDR-Bürger,
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März 1986 14 226 DDR-Bürger,
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April 1986 26 211 DDR-Bürger,
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Mai 1986 29 581 DDR-Bürger.
Von den gemäß den erweiterten Möglichkeiten im Zeitraum vom 1. Februar bis 31. Mai 1986 ausgesprochenen Genehmigungen wurden ca. 70 % von den Chefs der zuständigen BdVP aufgrund des Vorliegens »besonders humanitärer Anliegen«, die über die festgelegten konkreten Reisegründe bzw. Verwandtschaftsverhältnisse hinausgehen, erteilt.
Diesbezügliche Antragsgründe sind u. a.
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Schwere Erkrankung von in nichtsozialistischen Staaten und in Westberlin wohnhaften Verwandten, unterhalb der Schwelle einer lebensgefährlichen Erkrankung,
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Klärung von Erbschaftsangelegenheiten, die teilweise eine gemeinsame Ausreise von Ehepaaren erfordern,
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Begleitung von Verwandten, die aus unterschiedlichen Gründen nicht allein reisen können,
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Ausreise zu Geburtstagen von Verwandten, die bisher nicht erfasst sind,
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Besuch von Freunden und Bekannten, mit denen in der Vergangenheit gemeinsame Bewährungssituationen bestanden wurden und anderes mehr.
Darüber hinaus spricht eine Vielzahl von Bürgern der DDR in den Dienststellen des Pass- und Meldewesens der Deutschen Volkspolizei vor und besteht auf der Entgegennahme der Antragsunterlagen, obwohl kein Anliegen im Sinne einer dringenden Familienangelegenheit vorliegt und die Reisewünsche auch weit über die erweiterten Genehmigungsmöglichkeiten hinausgehen (Auswahl derartiger Reisewünsche – siehe Anlage).
Im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 1986 haben insgesamt 257 (120) Bürger der DDR unter Missbrauch von genehmigten Reisen in dringenden Familienangelegenheiten nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin die DDR ungesetzlich verlassen (das entspricht 73,6 % aller Personen, welche die DDR in diesem Zeitraum ungesetzlich verlassen haben).
Darunter befanden sich 61 Personen (23,7 %) mit abgeschlossener Hoch- bzw. Fachschulausbildung, darunter 15 Ärzte und vier Zahnärzte, sowie 134 Facharbeiter. 17 Personen waren Mitglieder der SED.
Unter den 257 Personen, die im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 1986 unter Missbrauch von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten die DDR ungesetzlich verlassen haben, befinden sich 75 Personen (29,2 %), deren Reise entsprechend den erweiterten Möglichkeiten genehmigt worden war.
Die Tendenz des Missbrauchs von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten ist weiter steigend.
Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits in über 60 Fällen durch die in der DDR verbliebenen Ehepartner Ersuchen auf Familienzusammenführung bzw. auf Übersiedlung nach der BRD gestellt wurden. (Vorliegenden Hinweisen zufolge wird auch diese Tendenz noch erheblich zunehmen.)
Seitens der zuständigen Organe der Deutschen Volkspolizei ist – ausgehend vom sprunghaften Ansteigen und der weiter absehbaren Zunahme von Anträgen auf Reisen in dringenden Familienangelegenheiten – eine Reihe von Maßnahmen vorbereitet und durchgeführt worden, so u. a.
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Zuversetzung bzw. Zukommandierung von zusätzlich ca. 500 Kräften in die Dienststellen des Pass- und Meldewesens,
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Verlagerung der Öffnungszeiten der Dienststellen Pass- und Meldewesen entsprechend den Erfordernissen,
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dezentrale Beratungen mit den Leitern der Abteilungen PM der BDVP zur weiteren Qualifizierung des Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahrens,
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Ausarbeitung und Abstimmung des Entwurfes einer Verfügung des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR zur Gewährleistung eines einheitlichen Herangehens der Leiter der staatlichen Organe, Kombinate, Betriebe und Einrichtungen sowie der Vorsitzenden gesellschaftlicher Organisationen und Genossenschaften bei der Zustimmung zu Ausreisen von Bürgern der DDR nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin in dringenden Familienangelegenheiten,
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Erprobung der Dezentralisierung der Entgegennahme von Ersuchen auf Ausreisen im Bereich des BDVP Berlin in vier VP-Inspektionen der Hauptstadt der DDR,
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Vorbereitung des Einsatzes von Computern im Dienstzweig Pass- und Meldewesen und anderes mehr.
Trotz höchster Einsatzbereitschaft der eingesetzten Kräfte und der seit dem 1. Februar 1986 wesentlich flexibleren politisch feinfühligeren und vertrauensvolleren Arbeit im Prozess der Herbeiführung von Reiseentscheidungen ist festzustellen, dass
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die Wartezeiten in den Dienststellen Pass- und Meldewesen nicht wesentlich zurückgedrängt werden konnten.
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bisher kein Rückgang der Einreichung von Eingaben und Beschwerden der Bürger zu Reiseangelegenheiten an zentrale staatliche Organe eingetreten ist, wobei charakteristisch ist, dass weniger Beschwerden im Zusammenhang mit der Ablehnung von Reiseersuchen, aber mit steigender Tendenz Reisewünsche die weit über den Rahmen der internen Festlegungen für die erweiterten Reisemöglichkeiten hinausgehen, vorgebracht werden (1. Halbjahr 1985 – 4 314 5chreiben dieser Art; im Zeitraum 1. Januar bis 31. Mai 1986 6 734 derartige Schreiben).
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es bisher nicht gelungen ist, Ersuchen auf Übersiedlung in das nichtsozialistische Ausland, die häufig mit fehlenden Reisemöglichkeiten begründet wurden, zurückzudrängen (im Zeitraum 1. Januar bis 31. Mai 1986 wurden mit 18 686 Erstersuchen um Übersiedlung 9 102 Erstersuchen (= 95 %) mehr gestellt als im gleichen Zeitraum des Jahres 1985; gleichzeitig verringerten sich in diesem Zeitraum die erreichten Abstandnahmen von Übersiedlungsersuchen von 5 763 auf 4 667 um 19 %).
Zur Durchsetzung der getroffenen Maßnahmen wurden seitens der Deutschen Volkspolizei vor allem im Interesse einer zügigen Bearbeitung der Anträge, Festlegungen zur Reduzierung des Arbeitsaufwandes getroffen wie z. B. differenzierte Vorbereitung und Durchführung der Antragsgespräche und der Dokumentierung ihrer Ergebnisse, Minimierung und Differenzierung der Ermittlungstätigkeit der Abschnittsbevollmächtigten der Deutschen Volkspolizei, was dazu beitrug, den Zeitaufwand pro Ersuchen um ca. die Hälfte zu senken.
Im Ergebnis geführter Untersuchungen wurden zwischenzeitlich durch das Ministerium des Innern weitere Möglichkeiten zur effektiveren Gestaltung der Arbeitsprozesse im Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren herausgearbeitet, die sich u. a. beziehen auf
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die Schaffung zweckmäßigerer Ebenen der Entscheidungsbefugnis bzw. des Vorschlagrechtes,
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die Verlagerung ausgewählter Arbeitsprozesse auf die Meldestellen der Deutschen Volkspolizei,
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die weitere Reduzierung des Ermittlungsaufwandes der Abschnittsbevollmächtigten,
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die Schaffung neuer Leitungsebenen im Sachgebiet Reiseverkehr des Pass- und Meldewesens,
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die Rationalisierung weiterer Arbeitsprozesse des Dienstzweiges Pass- und Meldewesen.
Seitens des Ministeriums für Staatssicherheit wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass der Prozess der Durchsetzung weiterer Maßnahmen zur rationelleren und effektiveren Gestaltung der Arbeitsprozesse im Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren auf keinen Fall zu Abstrichen an der Wahrung der konsequenten Durchsetzung der Sicherheitsinteressen der DDR führen darf.
Davon ausgehend sind bei der Herbeiführung von Reiseentscheidungen generell insbesondere folgende Grundanforderungen durchzusetzen:
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Gewährleistung der strikten Wahrung der sicherheitspolitischen Interessen der DDR sowie Verhinderung des Missbrauchs von Reisen zum ungesetzlichen Verlassen der DDR und zu anderen die DDR schädigenden Aktivitäten,
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Durchsetzung des Grundsatzes, in Umsetzung der Innen- und Außenpolitik der Partei und unseres sozialistischen Staates, solchen Bürgern der DDR Reisegenehmigungen zu erteilen,
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die im Sinne tatsächlicher humanitärer Anliegen einen den zentralen Festlegungen entsprechenden Reisegrund vorweisen können bzw. wo eines der genannten Verwandtschaftsverhältnisse besteht,
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von denen zu erwarten ist, dass sie die DDR im nichtsozialistischen Ausland würdig vertreten,
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Erarbeitung objektiver Informationen zu Antragstellern, die gesicherte Erkenntnisse darüber vermitteln, dass
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der Bürger eine positive bzw. loyale Grundhaltung zu den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR besitzt,
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keine Hinweise darüber vorliegen, dass der Bürger die Ausreise in dringenden Familienangelegenheiten zum ungesetzlichen Verlassen der DDR zu missbrauchen beabsichtigt,
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der Geheimnisschutz gewährleistet ist und die bezüglich außerdienstlichen Reisen von Geheimnisträgern getroffenen Regelungen konsequent eingehalten wurden.
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(Die inhaltlichen Vorgaben für die einzelnen Arbeitsprozesse im Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren, insbesondere für die Arbeit der Abschnittsbevollmächtigten, sollen unter Beachtung der erheblich angestiegenen Reiseersuchen unter diesen Gesichtspunkten überarbeitet, präzisiert bzw. weiter ausgestaltet werden.)
In konsequenter Durchsetzung des Differenzierungsprinzips gilt es vor allem zu gewährleisten, dass im Prozess der Herbeiführung von Reiseentscheidungen solchen Bürgern der DDR, die für unsere sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung aufgrund ihrer Qualifikation/beruflichen Tätigkeit/gesellschaftlichen Funktion im politischen, ökonomischen, militärischen, kulturellen und sportlichen Bereich von besonderer Bedeutung sind – und damit zugleich zu den Zielgruppen gegnerischer Machenschaften der Abwerbung und anderer feindlich-negativer Beeinflussung gehören (wobei sich der Gegner gegenwärtig vordergründig auf Hoch- und Fachschulkader aus den medizinischen und wissenschaftlich-technischen Bereichen konzentriert) – besondere Beachtung beigemessen wird.
Reiseentscheidungen zu solchen Bürgern dürfen unbedingt nur auf der Grundlage umfassendster Erkenntnisse über deren politische Zuverlässigkeit getroffen werden. Diesbezügliche Risikoentscheidungen sind weitgehend auszuschließen.
Ausgehend davon, dass die weitere Rationalisierung und Vereinfachung der Arbeitsweise und -organisation bei Wahrung der Sicherheitsinteressen hohe Anforderungen an das komplexe Handeln der operativen Dienstzweige der Deutschen Volkspolizei, vor allem des Pass- und Meldewesens, der Kriminalpolizei und der Schutzpolizei, und an die weitere Befähigung der Leiter und Offiziere für Reiseangelegenheiten des Dienstzweiges Pass- und Meldewesen stellt, wird es für zweckmäßig erachtet, durch das Ministerium des Innern einen Arbeitshinweis als methodischen Leitfaden zum »Wie« aller im Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren zu lösenden Aufgaben zu erarbeiten und auf dieser Grundlage in allen Bezirken Weiterbildungsveranstaltungen im Dienstzweig Pass- und Meldewesen unter Einbeziehung aller anderen am Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren beteiligten Dienstzweige des Ministerium des Innern, insbesondere der Kriminalpolizei und der Schutzpolizei, durchzuführen.
Seitens des MfS wird auch weiterhin der Deutschen Volkspolizei im engen kameradschaftlichen Zusammenwirken aktive Hilfe und Unterstützung im Prozess der weiteren Qualifizierung der Tätigkeit, der Durchsetzung der Sicherheitsinteressen der DDR und der Zurückdrängung des Missbrauchs von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten zum ungesetzlichen Verlassen der DDR bzw. zu anderen die DDR schädigenden Aktivitäten gewährt.