Erste Reaktionen auf den XVII. KPdSU-Parteitag
3. März 1986
Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf den XXVII. Parteitag der KPdSU [O/157]
Nach vorliegenden Informationen aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR ist unter allen Kreisen der Bevölkerung ein außerordentlich starkes Interesse am Inhalt und Verlauf des XXVII. Parteitages der KPdSU1 festzustellen. Progressive Kräfte bewerten den Parteitag als herausragendes internationales Ereignis, das dem Kampf um die Erhaltung und Festigung des Friedens neue Impulse verleihen und einen bedeutenden Beitrag zur weiteren Festigung der Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Staatengemeinschaft, zur Vertiefung der Zusammenarbeit der kommunistischen und Arbeiterparteien leisten werde. Die Anwesenheit einer Vielzahl von Gastdelegationen, darunter von Vertretern der Sozialistischen Internationale und aus Entwicklungsländern, sei Ausdruck der hohen Wertschätzung und der internationalen Autorität der KPdSU.
Kritisch vermerkt wird das Fehlen einer Delegation der KP Chinas. In diesem Zusammenhang stellten Studenten (u. a. Medizinische Akademie Erfurt) die Frage, ob die DDR nicht ein zu optimistisches Bild über die Entwicklung der Beziehungen der VR China zu den sozialistischen Staaten vermittele.
Der politische Bericht des ZK der KPdSU wird von nahezu allen Bürgern mit großer Zustimmung aufgenommen. Die darin enthaltenen Grundlinien der sowjetischen Außenpolitik werden als überzeugender Beweis des beharrlichen Ringens der UdSSR um die Realisierung des komplexen Programms zur völligen Beseitigung aller Massenvernichtungswaffen charakterisiert.
Im Mittelpunkt aller Diskussionen stehen die Ausführungen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Michail Gorbatschow,2 zu innenpolitischen Fragen. Die überwiegende Mehrheit aller sich dazu äußernden Personen zeigte sich besonders beeindruckt von der tiefgründigen und umfassenden Analyse der inneren Entwicklungsbedingungen, von der Sachlichkeit, der Offenheit und dem kritischen Gehalt sowie vom schöpferischen und optimistischen Herangehen an die zu lösenden Aufgaben bei der weiteren sozialökonomischen Entwicklung der UdSSR. Es sei erstaunlich, wie schonungslos Genosse Gorbatschow alle die gesellschaftliche Entwicklung in der UdSSR hemmenden Faktoren aufgedeckt, die dafür Verantwortlichen ohne Ansehen der Person beim Namen genannt und konkrete Wege zur Überwindung von Mängeln aufgezeigt habe. Diese Linie der KPdSU sei richtig und entspreche den Erfordernissen unserer Zeit. Es sei die einzig richtige Methode, auftretende Widersprüche im Sozialismus auf kommunistische Art zu lösen. Personen, die dieses kritische Herangehen der KPdSU an die Bewältigung der Aufgaben ablehnen, bilden die Ausnahme.
Sie argumentieren,
- –
durch ein solches Vorgehen würden dem Gegner Ansatzpunkte für gezieltere ideologische Angriffe gegen den Sozialismus geboten,
- –
bei personellen Veränderungen in der sowjetischen Führungsspitze habe es immer Kritik an der praktischen Umsetzung der Politik der Partei auf sozialökonomischem Gebiet gegeben, ohne dadurch grundlegende Veränderungen auf diesem Gebiet erreicht zu haben.
Beeinflusst durch entsprechende Sendungen westlicher Massenmedien wurden in Einzelfällen Zweifel geäußert, darunter auch von kirchlichen Amtsträgern, dass die neugewählte Parteiführung der KPdSU in der Lage sei, die im Bericht genannten Hemmnisse zu beseitigen, da sie im Innern des Landes auf »starken Widerstand« stoße.
Generell ist festzustellen, dass im Rahmen der Diskussionen zum Politischen Bericht des ZK der KPdSU unter allen politisch interessierten Personen vielfältige Bezugspunkte zur Lage in der DDR hergestellt, Vergleiche über den Entwicklungsstand beider Länder, vorrangig auf ökonomischem Gebiet, vorgenommen und daraus konkrete Erwartungshaltungen an den XI. Parteitag der SED3 abgeleitet werden.
Leitende Mitarbeiter der Hochschule für Ökonomie »Bruno Leuschner«, Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR und zentraler staatlicher Organe würdigten die Aussagen zu ökonomischen Fragen als fundierte Analyse der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Entwicklung in der UdSSR und leiteten unter Hinweis auf die enge Verflechtung der Volkswirtschaften beider Länder daraus bereits konkrete Schlussfolgerungen für die Erschließung weiterer wissenschaftlicher Potenzen in der DDR ab. Gleichzeitig forderten sie eine engere Verbindung wirtschaftsleitender Kader in der volkseigenen Industrie zu den Werktätigen, da ihrer Auffassung nach diese Kader die Probleme in den Arbeitskollektiven nicht mehr kennen und sie nicht wüssten, wie und worüber man sich mit Arbeitern unterhalten soll.
Teilweise hat der Umfang der im Politischen Bericht kritisch angesprochenen Probleme Verwunderung und Überraschung ausgelöst. Vereinzelt wurde daraus die Frage abgeleitet, ob uns die Sowjetunion tatsächlich noch in der Entwicklung voraus sei. Wiederholt wurden die gestellten Schwerpunkte bei der weiteren sozialökonomischen Entwicklung der UdSSR mit entsprechenden Ziel- und Aufgabenstellungen in der DDR verglichen und ein hohes Maß an Übereinstimmung festgestellt. Gleichzeitig wurde hervorgehoben, dass die DDR, bezogen auf das Entwicklungstempo beim Übergang zur umfassenden Intensivierung in der Volkswirtschaft sowie auf sozialpolitischem Gebiet weiter sei und die Partei- und Staatsführung der DDR offensichtlich rechtzeitiger auf objektive Erfordernisse reagiert habe und die KPdSU jetzt diese Erkenntnisse nutze. Wissenschaftler der Humboldt-Universität Berlin meinten dazu, die gegenseitige Nutzung der besten Erfahrungen sei »ein Gebot der Vernunft«.
Viele Mitglieder und Funktionäre der SED, Mitarbeiter staatlicher und wirtschaftsleitender Organe, darunter zahlreiche Mitarbeiter von Räten der Bezirke und Kreise, Kombinatsdirektoren, Angehörige der wissenschaftlich-technischen und pädagogischen Intelligenz sowie Funktionäre gesellschaftlicher Organisationen und befreundeter Parteien hoben hervor, viele der durch Genossen Gorbatschow kritisch aufgezeigten Probleme, subjektiv bedingten Mängel und Hemmnisse gebe es auch in der DDR.
Dabei wurde insbesondere verwiesen auf solche Erscheinungen/Tendenzen wie
- –
Planmanipulierung,
- –
Schönfärberei in der Berichterstattung von unten nach oben,
- –
ausschließliche Propagierung von Erfolgsbilanzen,
- –
Inkonsequenz, Gleichgültigkeit und Zurückweichen vor Auseinandersetzungen mit kleinbürgerlichen Verhaltensweisen, Verletzungen der Arbeitsdisziplin, bei der Bekämpfung von Alkoholmissbrauch und Rowdytum.
Ausgehend davon erwarten diese Personenkreise vom XI. Parteitag der SED in Anlehnung an den XXVII. Parteitag der KPdSU eine sachliche, kritische Analyse des Erreichten, eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Hemmnissen und subjektiv bedingten Mängeln, besonders im Bereich der Volkswirtschaft und die Festlegung konkreter Maßnahmen zu ihrer Beseitigung. Nur durch ein solches Herangehen – so wird argumentiert – könnten die Vorzüge und Potenzen der sozialistischen Gesellschaftsordnung voll wirksam werden.
Nachfolgend einige in diesem Sinne charakteristische Meinungsäußerungen:
- –
Zur Parteiarbeit gehöre neben einer umfassenden Würdigung erreichter Ergebnisse auch die sachliche Kritik. Diese Seite der Parteiarbeit komme bei uns zu kurz. Auch wir müssten alle Probleme offen ansprechen. In diesem Sinne sollten wir uns ein Beispiel an der KPdSU nehmen.
- –
Die Klarheit, Sachlichkeit und das kritische Ansprechen der Probleme durch Genossen Gorbatschow sei bewundernswert. Eine derartige Sprache sei immer konstruktiv und vorwärtsweisend. Bei unseren Menschen würden wir viel mehr Vertrauen und Aufgeschlossenheit vorfinden, wenn wir ebenfalls Fehler ohne Rücksicht auf die Person aufdecken würden. Ein derartiges Herangehen würde unsere Bürger weiter motivieren.
- –
Die Art, Probleme offensiv anzugehen, begeistere. Sie sei am geeignetsten, alle Kräfte zur Stärkung der sozialistischen Gesellschaft zu wecken und zu mobilisieren.
Die vorliegenden Hinweise über Meinungsäußerungen von Arbeitern und Angestellten aus Großbetrieben lassen weitgehende Übereinstimmung mit den Auffassungen vorgenannter Personenkreise erkennen. Bei Anerkennung aller unter Führung der SED erreichten Ergebnisse erwarten diese Werktätigen – häufig unter Bezugnahme auf bestehende Probleme in ihrem Tätigkeitsbereich – ebenfalls eine konstruktive, sachliche und kritische Auseinandersetzung auf dem XI. Parteitag der SED, insbesondere mit negativen Erscheinungen im Zusammenhang mit
- –
der Arbeitsweise staatlicher und wirtschaftsleitender Organe,
- –
der Gestaltung der Kooperationsbeziehungen zwischen den Kombinaten und Betrieben,
- –
der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation,
- –
den Arbeits- und Lebensbedingungen,
- –
der Arbeitsdisziplin.
Charakteristische Meinungsäußerungen:
- –
Es sei erstaunlich, mit welcher Offenheit Genosse Gorbatschow die Probleme angesprochen und Mängel, Missstände, Schludrigkeit und Faulheit direkt beim Namen genannt habe. Auch bei uns gibt es genügend Probleme, mit denen man sich auseinandersetzen müsse, aber vieles werde mit objektiven Schwierigkeiten abgetan.
Jetzt komme es darauf an, auch auf dem XI. Parteitag keine Mängel zu verschweigen und von realen Positionen auszugehen.
- –
Erfolge aufzählen sei richtig, aber bestehende Probleme nennen und Wege zu ihrer Beseitigung aufzeigen, das ist es, was uns voranbringt. Schönfärberei habe noch keinem genutzt, am wenigsten den Arbeitern. Sachliche und offene Kritik habe noch niemandem geschadet. Auf unserem Parteitag sollte in ähnlicher Aufgeschlossenheit an die Probleme herangegangen werden.
- –
Erreichte Erfolge dürften nicht überbetont, sondern sollten ausgewogen dargestellt werden. Gerade die ausschließlich auf Positives gerichtete Einseitigkeit führe dazu, dass Erfolgsmeldungen in unseren Massenmedien oftmals auf Unglauben stoßen, da das reale Bild sich aufgrund vorhandener Probleme und Angebotslücken mitunter für den Einzelnen anders darstelle.
In einer Reihe von Diskussionen wird jedoch ein derartiges Vorgehen bezweifelt. Vermutlich – so erklärten insbesondere Werktätige aus Betrieben – dominiere auf dem XI. Parteitag die »Erfolgsberichterstattung«.
Amtsträger der katholischen Kirche, darunter Dozenten von Priesterausbildungsstätten im Bezirk Erfurt sowie Intellektuelle katholischen Glaubens aus der Hauptstadt der DDR bekundeten ebenfalls ihr Interesse am Verlauf des XXVII. Parteitages der KPdSU. Ihrer Meinung nach gehe es dort ausschließlich um Machtfragen. Sie äußerten Zweifel, ob die UdSSR den eingeschlagenen innenpolitischen Kurs durchstehen werde. Sie beabsichtigen, den XI. Parteitag der SED auch unter Beachtung der kritischen Aspekte des KPdSU-Parteitages aufmerksam zu verfolgen, um Tendenzen für spätere Entwicklungsrichtungen in der DDR zu erkennen. Eine »Fehlerdiskussion«, wie sie jetzt unter Genosse Gorbatschow in Gang gekommen wäre, sei in der DDR undenkbar. Die durch ihn getroffene Einschätzung über Haltungen und Einstellungen von sowjetischen Funktionären wäre jedoch für die DDR durchaus »übernahmereif«.
Namhafte Schriftsteller und Autoren der DDR, sie sind alle Mitglieder des Schriftstellerverbandes der DDR, erhoffen sich unter Hinweis auf den kritischen Gehalt des Politischen Berichtes des ZK der KPdSU ebenfalls gewisse Auswirkungen auf den XI. Parteitag der SED. Es wäre ihrer Meinung nach wünschenswert, die Lage in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in der DDR, darunter auch im kulturellen Bereich, realistischer zu beurteilen. Die Propagandaarbeit der SED und der Massenmedien dürfte nicht ausschließlich auf Erfolgsberichte ausgerichtet sein.
Generell nahmen in Diskussionen Probleme der Informationspolitik der DDR einen relativ breiten Raum ein. Parteimitglieder u. a. progressive Kräfte aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen, darunter zahlreiche Arbeiter und Angestellte aus der materiellen Produktion, wirtschaftsleitende Kader und Angehörige der pädagogischen Intelligenz erklärten, es sei bedauerlich, dass bei den Parteiwahlen der SED bezüglich eines kritischen Herangehens so viel Zurückhaltung geübt worden sei und man bei Veröffentlichungen »zwischen den Zeilen« lesen müsse, obwohl die eigentlichen Probleme allgemein bekannt seien. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn nicht nur die erreichten Erfolge – teilweise »verpackt in einem Wust von Zahlen« – propagiert, sondern auch offen und ehrlich über vorhandene Schwierigkeiten und Mängel berichtet würde.
Die Darlegungen in unseren Massenmedien ließen immer nur den Schluss zu, dass bei uns alles in Ordnung sei. Im Gegensatz zur Sowjetunion gebe es in der DDR zu viel Schönfärberei.
In diesem Zusammenhang zweifelten u. a. Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, Lehrkräfte und Studenten sowie einige wirtschaftsleitende Kader, darunter Betriebsdirektoren, in internen Gesprächen den Wahrheitsgehalt von veröffentlichten statistischen Angaben über die Planerfüllung und ökonomischen Steigerungsraten im Ergebnis der Verpflichtungsbewegung an.
In Einzelfällen wurde erklärt, die in jüngster Zeit entwickelte Verpflichtungsbewegung für zusätzliche Tagesleistungen schade der Volkswirtschaft mehr als sie nutze. Mitarbeiter des Fernsehens der DDR, darunter der Redaktion »Prisma«,4 meinten, in Vorbereitung geplanter Sendebeiträge »vor Ort« ähnliche kritikwürdige Probleme festgestellt zu haben, wie sie im Politischen Bericht des ZK der KPdSU enthalten seien. Vorgesehene Sendebeiträge würden jedoch zunehmend schon in der Vorbereitungsphase am Einspruch der jeweils zuständigen Bezirks- und Kreisleitung oder des Betriebsdirektors scheitern.
Von hinlänglich bekannten feindlich-negativen Kräften liegen bisher nur in geringem Umfang Reaktionen vor. Ihre im unmittelbaren Umgangskreis getätigten Äußerungen zielen darauf ab,
- –
die politische Bedeutung des XXVII. Parteitages abzuwerten,
- –
die Tätigkeit der Partei- und Staatsführung der UdSSR zu diskreditieren (»Rückkehr in die Stalin-Ära«),
- –
die auf innenpolitischem Gebiet erzielten Erfolge der UdSSR zu verunglimpfen.