Flucht eines Offiziers der Grenztruppen
4. September 1986
Information Nr. 409/86 über die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungen zur Fahnenflucht eines Stabsoffiziers der Grenztruppen der DDR am 31. August 1986 nach der BRD
Am 31. August 1986, gegen 15.35 Uhr, wurde der Oberstleutnant Mann, Dietmar1 (37), geboren am [Tag, Monat] 1948, wohnhaft [Straße, Nr.], Diesdorf 3562, Kommandeur II. Grenzbataillon Bonese Grenzregiment-24 Salzwedel, Grenztruppen seit 2. September 1968, organisiert SED, ASV, FDJ, DTSB, DSF, unter Androhung der Anwendung seiner Dienstpistole gegen seinen Kraftfahrer, Gefreiter [Name 1], im Abschnitt der Grenzkompanie Neuekrug, 130 m östlich der Grenzsäule 467, nach der BRD fahnenflüchtig.
Die durch das MfS unverzüglich eingeleiteten Untersuchungen zum Tathergang haben ergeben:
Mann war für die Zeit vom 8. August bis 12. September 1986 Jahresurlaub gewährt worden.
Am Vormittag des 31. August 1986 begab er sich in Begleitung des Kraftfahrers Gefreiter [Name 1] mit einem Kfz Trabant/Kübel in Dienstuniform durch ein Grenzsignalzauntor in den Handlungsraum der Grenztruppen im Bereich der Grenzkompanie Neuekrug, um im dortigen Waldgebiet Pilze zu suchen. Zuvor hatte Mann vorschriftsmäßig im Bataillonsstab seine Dienstpistole nebst zwölf Patronen und weitere für seinen Aufenthalt im Handlungsraum erforderliche Ausrüstungsgegenstände empfangen. Gegen 11.30 Uhr brachte er die gesammelten Pilze zur Wohnung der in seiner Diensteinheit als Zivilbeschäftigte (Mechaniker für Fernmeldeanlagen) tätigen [Name 2, Vorname], zu der er seit Juli 1986 außereheliche Beziehungen unterhielt.
Auf seine Frage, ob er nach Scheidung seiner Ehe weiter mit ihr zusammenleben könne, antwortete die [Name 2] – ihren eigenen Angaben zufolge – in schroffer Form abschlägig, worauf er mit den Worten »dann komme ich bestimmt nicht wieder her« wütend ihre Wohnung verließ. Mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt in dieser Begebenheit das auslösende Moment für den Entschluss des Mann zur Fahnenflucht.
Nachdem er sich kurzzeitig nach Hause begeben hatte, verließ er mit der Begründung, die Pilzsuche fortsetzen zu wollen, gegen 14.00 Uhr, seine Wohnung. Um 14.53 Uhr fuhr er in Begleitung des gleichen Kraftfahrers in den selben Abschnitt wie am Vormittag, überzeugte sich unter einem Vorwand davon, dass der dortige Beobachtungsturm nicht besetzt und kein Postenpaar in der Nähe ist, suchte danach etwa 15 Minuten nach Pilzen und trat dann die Rückfahrt zum bezeichneten Grenzsignalzaun an. Dort angekommen, befahl Mann dem Kraftfahrer, das Kraftfahrzeug zu verlassen, und gab diesem den Schlüssel, um das Tor zu öffnen. Als der Kraftfahrer, der vorschriftswidrig, aber gewohnheitsgemäß seine Maschinenpistole im Kraftfahrzeug zurückgelassen hatte, einen Torflügel geöffnet hatte, befahl ihm Mann hindurchzugehen, das Tor von der freundwärtigen Seite wieder zu verschließen und sich zu Fuß ins Hinterland zu entfernen. Dabei bedrohte er den Kraftfahrer aus etwa zwei bis drei Metern Entfernung mit seiner im Hüftanschlag befindlichen Dienstpistole. Der Kraftfahrer, der objektiv keine Chance zur Gegenwehr hatte, kam dieser Aufforderung nach.
In der Folge fuhr Mann mit dem Kraftfahrzeug zum Kolonnenweg zurück, verließ unter Mitnahme der MPi des Kraftfahrers das Kraftfahrzeug, überwand den 6-m-Kontrollstreifen, den Kfz-Sperrgraben, überkletterte den Grenzzaun I und überschritt die Staatsgrenze in Nähe der Grenzsäule 467 nach der BRD. Die Waffen (MPi und Pistole) legte der Verräter an der Grenzlinie ab. Sie wurden sichergestellt.
Zum Persönlichkeitsbild des Mann wurde bekannt:
Mann entstammt einer Lehrerfamilie, er lernte nach Abschluss der 10. Klasse den Beruf eines Rinderzüchters mit Abitur und absolvierte danach von 1968 bis 1971 die Offiziershochschule der Grenztruppen »Rosa Luxemburg«. Anschließend kam er als Zugführer im Grenzbataillon Bonese zum Einsatz und nahm dort über die Dienststellungen Kompaniechef, stellvertretender Stabschef und Stabschef eine kontinuierliche militärische Entwicklung, sodass er ab 1. März 1982 als Bataillonskommandeur eingesetzt werden konnte.
Mann erfüllte alle ihm übertragenen militärischen Aufgaben in hoher Qualität, hatte erheblichen Anteil an der bisher stabilen Grenzsicherung in seinem Verantwortungsbereich und zeichnete sich im Dienst- und Freizeitbereich durch aktive Parteiarbeit und andere gesellschaftliche Tätigkeit aus. Sein Gesamtverhalten ließ in keiner Weise Zweifel an seiner politischen Standhaftigkeit und Überzeugung aufkommen.
Er hatte einen guten Kontakt zu unserem Organ und informierte offen über Probleme der personellen und funktionellen Sicherheit und Ordnung in seinem Verantwortungsbereich.
Während des Studiums an der Offiziershochschule 1969 schloss er seine erste Ehe, die jedoch bereits im Dezember 1970 wieder geschieden wurde. Für den aus dieser Ehe stammenden Sohn wurde ihm das Erziehungsrecht übertragen.
Im Juli 1974 ging Mann seine zweite Ehe ein, aus der zwei Kinder (neun bzw. sechs Jahre) hervorgingen. [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]
Anfang Juli 1986 nahm Mann außereheliche Beziehungen zu der [Name 2, Vorname] (29) auf, von denen seine Ehefrau Kenntnis hatte und darüber mehrere Personen ihres Bekanntenkreises informierte, worauf durch diese sowohl auf Mann als auch auf die [Name 2] zwecks Lösung ihrer Beziehungen und Aufrechterhaltung seiner Ehe eingewirkt wurde.
Offenkundig war Mann nicht in der Lage, diese durch sein Verschulden entstandene Situation psychisch zu bewältigen. Das zeigte sich – wie aus jüngsten Aussagen der Ehefrau und der [Name 2] bekannt wurde – insbesondere nach Antritt seines Jahresurlaubs ab 8. August 1986 [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]. Diese Situation spitzte sich zu, als die [Name 2] seit dem 17. August 1986 ihrerseits darauf drängte, das Verhältnis zu Mann zu lösen.
Seitens des Kommandeurs des Grenzregimentes Salzwedel und dessen Stellvertreters für Politische Arbeit, die seit dem 15. August 1986 von der Ehekrise des Mann Kenntnis hatten, wurde bei drei mit den Ehepartnern geführten Aussprachen die Tiefe dessen Konflikts nicht erkannt und seinen Bekundungen, seine Probleme ordnen und die Ehe aufrechterhalten zu wollen, Glauben geschenkt. Außerdem wurden ihm durch den Kommandeur nicht näher präzisierte dienstliche und parteiliche Konsequenzen für sein unmoralisches Verhalten angekündigt.
Die im dienstlichen und privaten Umgangskreis des Verräters geführten Untersuchungen bestätigten die bisher positive Persönlichkeitseinschätzung und die in letzter Zeit bestehende beträchtliche psychische Konfliktsituation, die von Mann offensichtlich nicht bewältigt wurde.
Aufgrund der positiven Gesamtentwicklung des Mann wurde in keiner Weise auf die Möglichkeit einer spontanen Konfliktlösung durch Fahnenflucht geschlussfolgert.
Die durch den Verräter insbesondere am Tag der Realisierung seines Verbrechens angewandten Listen (Vorwand Pilze suchen), sein längerer ungestörter Aufenthalt im Grenzabschnitt – vor allem feindwärts des Grenzsignalzaunes – und die ihm übergebenen Ausrüstungsgegenstände (u. a. Postentabelle) ermöglichten ihm, den Kräfteeinsatz exakt einzuschätzen sowie den günstigsten Tatzeitpunkt ohne jegliche Behinderung festzulegen.
Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen werden fortgeführt.
Im engen Zusammenwirken mit den Grenztruppen werden weitergehende Maßnahmen zur Veränderung des Grenzregimes und der Stabilisierung der Sicherheitslage durchgesetzt.