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Hintergründe zur Fahnenflucht eines Oberstleutnants der NVA

1. Juli 1986
Information Nr. 314/86 über die Ergebnisse der Untersuchungen zu Handlungen des Oberstleutnants [Name 1, Vorname], Kommandeur des Fliegertechnischen Bataillons – 37 Drewitz

Am 23. Juni 1986, gegen 21.00 Uhr, wurde im Ergebnis eingeleiteter Fahndungsmaßnahmen in Forst, Bezirk Cottbus, der Oberstleutnant [Name 1, Vorname] (37), Berufsoffizier der NVA seit 1967, Kommandeur des Fliegertechnischen Bataillons (FTB) – 37 Drewitz, wegen des Verdachts der Fahnenflucht im schweren Fall festgenommen. Oberstleutnant [Name 1] war am 23. Juni 1986 nicht an seinem Kommandierungsort Strausberg erschienen und unter Mitführung seiner Dienstpistole Makarow nebst zwölf Patronen unbekannten Aufenthaltes.

Das gemäß § 254 (1) (2) 2 StGB1 eingeleitete und das seit dem 17. Juni 1986 beim Militärstaatsanwalt anhängige Verfahren wegen Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums (§ 161a StGB)2 wurde vom MfS zur weiteren Bearbeitung übernommen. Bereits zu Beginn der Untersuchung erwies sich der Verdacht der Fahnenflucht als unbegründet, sodass vom Erlass eines Haftbefehls abgesehen wurde.

(Oberstleutnant [Name 1] befindet sich zwecks Realisierung der erforderlichen Untersuchungshandlungen mit Zustimmung des Genossen Generaloberst Reinhold3 in einem Sonderobjekt.4)

Die durch das MfS geführten Untersuchungen haben ergeben:

Oberstleutnant [Name 1] fasste am Abend des 22.6.1986 den Entschluss, im Waldgelände in der näheren Umgebung seines Wohn- und Dienstortes Suizid durch Erschießen zu begehen. Zu diesem Zweck suchte er am Morgen des 23.6.1986, gegen 5.20 Uhr, seine Dienststelle auf, empfing seine persönliche Waffe nebst Munition und legte danach in seinem Dienstzimmer die Umstände und Motive für seinen Entschluss zur Selbsttötung auf einer Tonbandkassette dar.

Anschließend begab er sich um 7.00 Uhr unter Mitnahme der Tonbandkassette mit seinem Pkw »Lada« nach Turnow, wo er einen Abschiedsbrief an seine Ehefrau fertigte, den er ebenso wie die in einem Umschlag befindliche und an die Zentrale Parteikontrollkommission adressierte Kassette von Turnow aus auf dem Postwege zum Versand brachte. Während seines anschließenden Aufenthaltes in der Umgebung des Flugplatzes Drewitz gab er einen Probeschuss aus seiner Pistole ab, verzögerte die Realisierung des Suizids weiter durch Formulierung eines zweiten, ausführlichen Briefes an seine Ehefrau und begab sich, nachdem er sich erheblich unter Alkoholeinfluss gesetzt hatte, zu seiner geschiedenen Ehefrau nach Forst, um seine beiden Kinder aus erster Ehe noch einmal zu sehen. Hier erfolgte seine Festnahme durch Fahndungskräfte der Deutschen Volkspolizei.

In völliger Übereinstimmung des Inhalts der Abschiedsbriefe, des auf der Kassette gespeicherten Textes sowie der Aussagen des Oberstleutnants [Name 1] liegen die Umstände und Motive für den Entschluss zum Suizid ausschließlich in seiner Befürchtung, im Zusammenhang mit zweckentfremdeter Verwendung ihm zur Verfügung stehender Prämiengelder zu Unrecht der persönlichen Bereicherung bezichtigt, womöglich sogar strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und in Unehren aus der NVA entlassen zu werden.

Die zu diesem Sachverhalt geführten Untersuchungen haben ergeben, dass Oberstleutnant [Name 1] mit Wissen und Einverständnis mehrerer Angehöriger der Bataillonsleitung und weiterer Offiziere sowie Berufsunteroffiziere seiner Dienststelle von März 1985 bis Mai 1986 aus dem Prämienfonds des Kommandeurs, der jährlich durchschnittlich 30 000 Mark beträgt, insgesamt 10 000 Mark entgegen der Prämienordnung der NVA vom 12. Oktober 1982 verwendete, und zwar zur Finanzierung von zwei Bataillonsvergnügen (insgesamt 6 750 Mark), zur finanziellen Absicherung von Kommandeursberatungen, einer Maßnahme der Waffenbrüderschaft, für Geburtstage, Jubiläen und dergleichen (1 700 Mark) sowie zur Stimulierung von Baumaßnahmen innerhalb seiner Dienststelle seitens des Autobahnbaukombinates Potsdam vorwiegend in Form der Übergabe von Präsenten und alkoholischen Getränken (1 550 Mark). Für derartige Maßnahmen und Anlässe standen ihm keine bzw. für Jubiläen und zur Pflege von Kontakten mit Partnern des Zusammenwirkens nur minimale Mittel zur Verfügung. Zur Aufbesserung derselben wurden durch Oberstleutnant [Name 1] bei Bedarf Befehle über Prämierungen erlassen, worauf die prämiierten Armeeangehörigen vereinbarungsgemäß und auf freiwilliger Basis ihre in bar empfangenen und quittierten Geldprämien ganz oder teilweise an Oberstleutnant [Name 1] oder an mit der Organisation der betreffenden Maßnahmen beauftragte Offiziere zurückgaben. Die Verwendung dieser Gelder ist rechnungsmäßig nachgewiesen.

Damit ist zugleich belegt, dass sich Oberstleutnant [Name 1] mit dieser Handlungsweise persönlich nicht bereicherte.

Die Aussagen von Oberstleutnant [Name 1], dass mit Prämiengeldern derartig verfahren wird, solange er Offizier ist und dass er selbst mehrfach, letztmalig 1985, erhaltene Geldprämien an seine Vorgesetzten zurückerstattete, fanden in der Untersuchung ihre Bestätigung. So sagen der Kommandeur und der Stabschef des Geschwaders, die Zeugen Oberstleutnant Hoffmann5 und Major Angermann,6 beides Vorgesetzte des Oberstleutnant [Name 1] aus, dass 1985 zur finanziellen Absicherung des Geschwader-Vergnügens auf diese Weise 2 000 Mark, für den Ankauf eines Rasenmähers 900 Mark und für die Geburtstagskasse 250 Mark aus dem Prämienfonds verwendet wurden. Dass Oberstleutnant [Name 1] in gleicher Weise gegen die Prämienordnung verstößt, war den genannten Vorgesetzten bekannt, jedoch bestand ihrerseits kein Interesse an diesbezüglichen Kontrollen und damit offiziellem Bekanntwerden dieser Praktiken.

Am 13. Mai 1986 informierte der dem FTB-37 zugehörige Hauptmann [Name 2] während des Urlaubes des Oberstleutnant [Name 1] die Parteileitung darüber, dass er eine Prämie an [Name 1] zurückgeben musste. Aufgrund dieser Information wurde eine Untersuchungskommission der NVA eingesetzt, die durch Prüfung von Belegen und Befragung der Beteiligten die Verstöße des Kommandeurs aufdeckte.

Da Oberstleutnant [Name 1] in seiner Handlungsweise keine Verwerflichkeit sah, bekannte er sich nach Wiederaufnahme des Dienstes zu seinen Praktiken und erklärte gegenüber der Untersuchungskommission, dass er bewusst gegen die Finanzrichtlinien verstoßen habe, um dem Bataillon bessere Dienst- und Lebensbedingungen zu verschaffen. Die Untersuchungsergebnisse wurden dem Militärstaatsanwalt übergeben, der am 17. Juni 1986 gegen [Name 1] ein Ermittlungsverfahren wegen Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums gemäß § 161a StGB einleitete. Oberstleutnant [Name 1], dem die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn nicht bekanntgegeben und der selbst zur Sache noch nicht vernommen worden war, wurde mit Wirkung vom 16. Juni 1986 von seiner Dienststellung entbunden und zum Führungsorgan nach Strausberg kommandiert.

Am 22. Juni 1986 führte Oberstleutnant [Name 1] zielgerichtet ein Gespräch mit einem in seiner Nachbarschaft wohnenden und hierzu zeugenschaftlich vernommenen Offizier, um sich über den Gang der Untersuchung zu informieren. Dabei teilte ihm der Zeuge mit, dass er den Eindruck habe, man wolle [Name 1] persönliche Bereicherung nachweisen. Außerdem konfrontierte er ihn mit Argumenten der mit der Untersuchungsführung betrauten Militärstaatsanwälte, wonach der Beschuldigte nicht wieder als Kommandeur würde tätig sein können.

Aufgrund dieser Mitteilung zweifelte Oberstleutnant [Name 1] ernsthaft an der Objektivität der Ermittlungsführung, sah keine Möglichkeit, sich zu rechtfertigen und fasste den Entschluss zum Suizid.

Zum Persönlichkeitsbild des Oberstleutnant [Name 1]: [Name 1] entstammt einem fortschrittlichen Elternhaus. Nach Abschluss seiner Berufsausbildung zum Landmaschinen- und Traktorenschlosser mit Abitur im Jahre 1967 wurde er an der Offiziershochschule »Ernst Thälmann« zum Offizier für Raketentechnik und Artilleriebewaffnung herangebildet und gelangte ab 1970 im Bestand des FTB-3 Preschen als Zugführer, Offizier für waffentechnischen Dienst und Kompaniechef zum Einsatz. Von 1980 bis 1983 erwarb er an der Militärakademie »Friedrich Engels« die Qualifikation eines Diplom-Militärwissenschaftlers und wurde anschließend als Stabschef des dem Jagdbombenfliegergeschwaders-37 zugehörigen FTB-37 eingesetzt.

Mit Wirkung vom 17. Juli 1984 ist er Kommandeur dieses Truppenteils. Genosse [Name 1] wird als intelligenter Offizier mit hohem militärischem Wissen und Können sowie Ehrgeiz zur unbedingten Erfüllung der ihm übertragenen militärischen Aufgaben charakterisiert. Jedoch entwickelte er, wie in den Zeugenaussagen der Angehörigen seiner Bataillonsleitung zum Ausdruck kommt, einen autoritären Leitungsstil, der sich im Umgang mit seinen Unterstellten besonders durch Reglementieren und Besserwisserei zeigte, wodurch er als militärischer Vorgesetzter teilweise unbeliebt war.

[Name 1] ist seit 1968 Mitglied der SED. Er ist in zweiter Ehe mit der Diplomlehrerin [Vorname], geborene [Name 3] verheiratet und Vater dreier Kinder.

In Übereinstimmung mit dem Militäroberstaatsanwalt ist entsprechend der vorliegenden Sach- und Rechtslage vorgesehen, wie folgt zu verfahren:

  • 1.

    Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Fahnenflucht gemäß § 148 (1) 1 StPO,7 da sich die Beschuldigung als nicht begründet erwiesen hat.

  • 2.

    Bezüglich der zweckentfremdeten Verwendung von Prämienmitteln ist festzustellen, dass eindeutige Verstöße des Oberstleutnant [Name 1] gegen die Ordnung Nr. 005/9/004 – Prämienordnung Armeeangehörige – des Ministers für Nationale Verteidigung vom 12.10.1982 vorliegen,8 jedoch weder objektiv noch subjektiv der Verdacht begründet ist, dass [Name 1] sich oder anderen damit rechtswidrig Vermögensvorteile verschafft hat und somit seiner Handlungsweise die kriminelle Substanz fehlt; deshalb auch das Ermittlungsverfahren gemäß § 161a StGB auf der Grundlage des § 148 (1) StPO einzustellen ist und diese Handlung nur durch Anwendung der Disziplinarvorschrift zu ahnden ist.

  • 3.

    Oberstleutnant [Name 1] ist zur Entscheidung über seine weitere Verwendung an die militärische Führung des Kommandos LSK-LV zu übergeben.

  1. Zum nächsten Dokument Friedenswerkstatt 1986 in der Erlöserkirche

    2. Juli 1986
    Information Nr. 313/86 über die Durchführung der »Friedenswerkstatt 1986« am 29. Juni 1986 in Berlin-Lichtenberg

  2. Zum vorherigen Dokument Interne Auswertung der Berliner Bischofskonferenz

    30. Juni 1986
    Information Nr. 304/86 über eine interne Auswertung der Sitzung der katholischen »Berliner Bischofskonferenz« (BBK) am 2./3. Juni 1986