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Hinweise zum DDR-Aufenthalt von Helmut Schmidt

[ohne Datum]
Hinweis: Aufenthalt des ehemaligen Bundeskanzlers der BRD, Schmidt, Helmut, Mitglied des Bundestages, vom 24. bis 26. Oktober 1986 in der DDR [K 1/169]

Am 24. Oktober 1986, 10.37 Uhr, erfolgte über die Grenzübergangsstelle Drewitz die Einreise des Schmidt, Helmut (67),1 in Begleitung seiner Ehefrau (67),2 des Leiters des Büros von Schmidt, Fischer,3 zweier Sicherheitsbeamter und zweier Kraftfahrer.

Die genannten Personen reisten am 26. Oktober 1986, 9.34 Uhr, über die Grenzübergangsstelle Drewitz wieder aus.

Die Grenzpassagen verliefen zügig und ohne Vorkommnisse.

Nach der Einreise fuhren Schmidt und seine Begleitung auf direktem Wege zu Prof. Heisig,4 Leipzig, wo er sich vor und nach dem vereinbarten Gespräch mit dem Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, Genossen Werner Jarowinsky,5 im Gästehaus des Ministerrates der DDR, Leipzig, aufhielt.

Schmidt saß Heisig erneut Modell für das vom Bundeskanzleramt Bonn in Auftrag gegebene Porträt, das am 30. Oktober 1986 durch den Vertragspartner Staatlicher Kunsthandel der DDR von Prof. Heisig übernommen werden soll.6

(Eines von weiteren durch Prof. Heisig erarbeiteten Porträts von Schmidt soll in einer Ausstellung von DDR-Malern in Bonn – Eröffnung der Ausstellung am 12. November 1986 – gezeigt werden.)

Nach vorliegenden internen Hinweisen habe sich Schmidt während seines Aufenthaltes im Atelier Heisigs u. a. wie folgt geäußert: Er sehe keinerlei reale Chancen für einen Wahlsieg der SPD bei den Bundestagswahlen 1987. Rau7 sei als Kanzlerkandidat für die Bevölkerung »nicht attraktiv«. Abwertend äußerte er sich über Bundeskanzler Kohl,8 besonders hinsichtlich dessen »fehlender Persönlichkeitsausstrahlung«. Eine differenzierte Einschätzung gab er zum Außenminister der BRD, der ihn einerseits »betrogen« habe, andererseits aber versuche, »die Friedenspolitik von Schmidt« fortzusetzen.

Schmidt habe im weiteren Verlauf der Sitzung im Atelier Heisig eine hohe Wertschätzung zur Person des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Genossen Erich Honecker,9 gegeben und »seine ausgeprägte Souveränität, seine weltpolitische Wirkung und persönliche Vitalität« hervorgehoben. Er habe sein persönliches Verhältnis zum Genossen Honecker als »herzlich und vertraulich« bezeichnet.

Schmidt, der am 24. Oktober 1986, ca. 20.15 Uhr, mit seiner Begleitung in Potsdam-Babelsberg eintraf, nahm bis zu seiner Ausreise im Oberlinhaus (kirchlich gebundene medizinische Einrichtung)/Direktorentrakt Quartier.

Hinweisen zufolge kam der als Privatbesuch deklarierte Aufenthalt Schmidts in Potsdam auf Initiative kirchenleitender Kräfte, insbesondere vom Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Stolpe, Manfred,10 und vom Generalsuperintendenten des Sprengels Potsdam, Bransch, Günter,11 zustande.

(Bereits bei dem Besuch von Schmidt im Jahre 1983 war eine erneute Einreise anlässlich der Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag des Potsdamer Edikts12 198513 vereinbart worden, was aufgrund anderer Verpflichtungen Schmidts nicht realisiert wurde.)

Anliegen seines Aufenthaltes in Potsdam bestand nach internen Angaben kirchenleitender Kräfte darin, ausgehend vom Potsdamer Edikt einen Vortrag über »Dialog und Toleranz als Elemente der Friedenssicherung in Europa und der Welt« zu halten.

Wiederholte Ankündigungen westlicher Massenmedien über das bevorstehende Auftreten Schmidts in Potsdam, die von der Kirche organisierte Vergabe von Einladungen und die damit verbundene Propagierung der kirchlichen Veranstaltung bewirkte in den letzten Tagen ein zunehmendes Interesse unter kirchlich gebundenen Personenkreisen und weiteren Teilen der Bevölkerung. Das bestätigte sich auch in zahlreichen intern festgestellten Anfragen von Bürgern aus der ganzen DDR zum vorgesehenen Programmablauf bzw. zu vorhandenen Besuchsmöglichkeiten und widerspiegelte sich in der Feststellung von insgesamt 44 Pkw aus anderen Bezirken der DDR (darunter aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt,14 Rostock und 31 aus der Hauptstadt) am Veranstaltungsort.

Zur Berichterstattung vom Vortrag Schmidts in der Nikolaikirche Potsdam waren 21 Korrespondenten westlicher Massenmedien aus der BRD und Westberlin, darunter drei Fernsehteams, anwesend.

Durch kirchenleitende Vertreter wurde intern Befriedigung über die erstmalige Anwesenheit einer Aufnahmegruppe des Fernsehens der DDR geäußert. Sie vermerkten dennoch kritisch, dass die DDR-Massenmedien bei kirchlichen Veranstaltungen zu wenig präsent seien und die Initiative der Berichterstattung westlichen Massenmedien überlassen werde.

Insgesamt waren in der Nikolaikirche aufgrund der erweiterten Platzkapazität ca. 1 000 Besucher anwesend, davon ca. zwei Drittel im Alter zwischen 30 und 50 Jahren und ca. ein Drittel jüngere Personen.

Des Weiteren hatten sich vor der Nikolaikirche ca. 150 bis 200 Schaulustige versammelt, die sich ohne Vorkommnisse nach Beginn der Veranstaltung zerstreuten.

In seinem am 25. Oktober 1986, in der Zeit von 17.00 bis 18.20 Uhr, gehaltenen Vortrag äußerte sich Schmidt in insgesamt sachlicher, nicht auf Konfrontation abzielende Weise u. a. zu aktuellen weltpolitischen Fragen. Folgende bemerkenswerte Aussagen waren in seinem Vortrag enthalten:

Einleitend vermerkte er rhetorisch, er habe für seinen Besuch in Potsdam keinen besonderen Anlass, und es sei normal, dass ein Deutscher Deutsche besucht. Danach einsetzenden starken Beifall der Mehrzahl der Besucher wehrte Schmidt durch Handbewegung ab und vermied im weiteren Verlauf seiner Ausführungen weitere ähnliche Aussagen.

Schmidt betonte, in Europa sei auf jeden Fall ein militär-strategisches Gleichgewicht unerlässlich, sonst könne der Frieden nicht erhalten werden. Militär-strategisches Gleichgewicht erlangen reiche nicht, es müsse auch das Wollen zum Ausgleich, zum Kompromiss auf beiden Seiten vorhanden sein. Wir müssten die Blockfreien in ihrer Motivation achten und verhindern, dass sie für eine Seite vereinnahmt werden.

Sowohl die Staaten des Warschauer Vertrages15 als auch der NATO dürften nicht ihr Sicherheitsbedürfnis auf Kosten des anderen befriedigen. Das schaffe Misstrauen und untergrabe Vertragstreue. Unbedingt müsse auf beiden Seiten die Bereitschaft zum Gewaltverzicht bestehen. Das betreffe sowohl den Einsatz atomarer als auch konventioneller Waffen. Jeglicher Ersteinsatz von Waffen sei abzulehnen. Notwendig sei nicht nur der Dialog der Regierenden, sondern auch der Regierten.

Ein weiterer Kerngedanke in den Ausführungen von Schmidt beinhaltete die spezifische Verantwortung der Deutschen, deren Neigung zu einem falschen Idealismus er mehrfach hervorhob. Er betonte, dass gerade die Deutschen lernen müssten, das Machbare zu realisieren und dass sie Abstand davon nehmen müssten, vorgestellte Ideale durchzusetzen, ohne Rücksicht auf die Realitäten. Das schaffe Aggressivität und begünstige Konfrontationen. Er hob die von Erich Honecker und von ihm »erklärte Prämisse« hervor, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen darf und dass dies für die Deutschen die einzig wesentliche Zielvorstellung sein müsse. Um dieses Zieles Willen müssten die Deutschen auch ihr Verhältnis zur Teilung der Nation finden. Schmidt erklärte weiter, um des Friedens Wille müsse man die Teilung Deutschlands als den gegenwärtigen Zustand erst einmal akzeptieren und auf der Grundlage dessen nach Schritten suchen, diese Teilung zu mildern, mögliche Gemeinsamkeiten zu realisieren, aber nicht über das Ziel hinauszuschießen. Er verwies auf die Teilung Polens, die Jahrhunderte dauerte und hob hervor, eine Nation sei so schnell nicht zu zerstören.

Bemerkungen Schmidts zur innenpolitischen Lage in der DDR enthielten keine kritischen Ansatzpunkte. Direkt auf das Staat-Kirche-Verhältnis eingehend, kennzeichnete er die strikte Trennung von Staat und Kirche, wie sie in der DDR existiere, als eine notwendige und richtige Voraussetzung, um wechselseitige Verständnisse zu schaffen.

An dem Empfang in der Hoffbauer-Stiftung Potsdam-Hermannswerder (kircheneigenes Objekt), der nach der Veranstaltung in der Nikolaikirche stattfand, nahmen ca. 50 geladene Gäste teil, darunter der Staatssekretär für Kirchenfragen, Genosse Gysi,16 Repräsentanten der Partei und des Staatsapparates des Bezirkes Potsdam, die Botschafter Frankreichs, Großbritanniens und Norwegens sowie der Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Dr. Bräutigam,17 und weitere Vertreter von den Botschaften der UdSSR, ČSSR, Ungarischen VR und USA sowie der ehemalige Intendant des SFB, Lothar Löwe,18 und der leitende Mitarbeiter des Kultursenators von Westberlin, Winfried Staar.19

Während des Empfangs bildeten sich mehrere Gesprächsgruppen. Schmidt, der offensichtlich keine umfassenden Kontakte suchte, befand sich vorwiegend im Gespräch mit den Gästen seiner Tischrunde (Staatssekretär Gysi, 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Potsdam, Jahn,20 Vorsitzender des Rates des Bezirkes, Tzschoppe,21 Oberbürgermeister der Stadt Potsdam, Seidel)22.

Seine hier getätigten Äußerungen stimmten überwiegend mit vorher von ihm dargelegten Ansichten während seines Aufenthaltes in der DDR überein. Emotional äußerte sich Schmidt gegenüber Genossen Gysi und Repräsentanten des Bezirkes Potsdam über das Treffen in Reykjavík23 und brachte u. a. sein Unverständnis darüber zum Ausdruck, dass beide Seiten auf ihrem Standpunkt zu SDI24 beharrten, Schmidt war der Meinung, beide Seiten blieben nicht bei der Wahrheit. Auch die Sowjetunion habe nach 20 Jahren Arbeit die entsprechenden Voraussetzungen auf diesem Gebiet; und beide Seiten müssten sich zunächst im eigenen Lager verständigen. Er erwarte von weiteren Gesprächen zwischen den Außenministern der UdSSR und USA »Schritte nach vorn«.

Der Leiter des Büros von Schmidt, Fischer, äußerte sich im Verlauf des Empfanges mehrfach zu den bevorstehenden Bundestagswahlen25 und zur inneren Lage in den politischen Parteien der BRD.

Er bekräftigte die Ansicht, wonach die SPD keine Chance für das Erreichen einer Mehrheit bei den Bundestagswahlen habe. Er bedauerte das »Vergängliche« der Linien Wehner,26 Brandt27 und Schmidt und prognostizierte, die SPD benötige 15 bis 20 Jahre, um in der Politik wieder ein eigenes Profil zu erringen. Zum Teil in subjektiver Auslegung machte er Ausführungen über Arbeitsweise und Charaktereigenschaften von Kohl und Schmidt und war der Ansicht, dass Kohl trotz kritikwürdiger Persönlichkeitsmerkmale den Wahlkampf gewinnen werde.

Internen Hinweisen zufolge werteten kirchenleitende Kräfte gegenüber Schmidt und anderen Personen seiner Begleitung den Vortrag Schmidts in der Nikolaikirche sowie sein gesamtes weiteres Auftreten als gut und inhaltsreich.

Besondere Zustimmung fänden die Passagen, in denen er sich mit Äußerungen von Reagan28 (Bezeichnung der SU als »Reich des Bösen«) und Kohl (Vergleich zwischen Gorbatschow29 und Goebbels30)31 auseinandersetzte. Solche Äußerungen seien in der Politik untaugliche Mittel. Dieser Personenkreis begrüßte auch, dass sich Schmidt »so eindeutig für die Politik des Dialogs ausgesprochen« habe.

Nach streng internen Hinweisen plane die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, künftig in jedem Jahr eine derartige Großveranstaltung in Potsdam durchzuführen. Es werde damit beabsichtigt, sich aufzuwerten, vor allem gegenüber den anderen Landeskirchen, und eine größere Anzahl von Personen in die Kirche zu bringen. Außerdem habe sich Generalsuperintendent Bransch im Hinblick auf die im Jahre 1988 stattfindende Bischofswahl ins »richtige Licht« setzen wollen. Innerkirchlich wolle man mit solchen Veranstaltungen gegenüber der »Basis zeigen, dass etwas in Gang gesetzt« werde. Mit dem Vortrag von Schmidt habe man demonstrieren wollen, dass die Überlebensfrage, das Miteinanderauskommen und das Leben mit Kommunisten in einem sozialistischen Staat im Sinne des neuen Denkens und der christlichen Ethik machbar sei.

Diese Zielstellung sei nach Auffassung der Kirchenleitung erreicht worden. In persönlichen Gesprächen habe Schmidt darüber informiert, dass er am 23. Oktober 1986 in Westberlin eine interne Zusammenkunft mit Kardinal Meisner32 hatte. Dieser habe ihm das Pastoralschreiben der Berliner Bischofskonferenz an die Priester und Diakone der katholischen Kirche in der DDR übergeben, in dem man sich zur Stellung der katholischen Kirche im sozialistischen Staat äußert.

(Der Wortlaut des Pastoralschreibens wurde in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 24. Oktober 1986 veröffentlicht.)33

Schmidt sei von Meisner beeindruckt und gegen die evangelische Kirchenleitung eingenommen gewesen, da sie sich nach Meisners Darstellungen zu sehr im Schlepptau des sozialistischen Staates befinde. Schmidt sei in diesem Zusammenhang von Altbischof Schönherr34 und Generalsuperintendent Bransch entgegnet worden, dass die katholische Kirche offiziell Zurückhaltung übe, um inoffiziell »große Geschäfte« mit dem Staat machen zu können.

Des Weiteren äußerte Schmidt in den persönlichen Gesprächen, dass er über das Gespräch mit dem Genossen Jarowinsky verärgert sei. Schmidt habe ihn mehrfach provoziert, u. a. mit der Feststellung, dass der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Genosse Gorbatschow, in Reykjavík auch gelogen habe. Genosse Jarowinsky sei jedoch bei seiner Position geblieben und habe stereotyp die im Kommuniqué enthaltenen politischen Fragen abgehandelt. Andererseits wäre er jedoch davon beeindruckt, dass Genosse Jarowinsky zum Verhältnis Staat-Kirche klare Aussagen gemacht habe, bestehende Differenzen berücksichtige und offensichtlich auch über innere Vorgänge in den Kirchen informiert sei.

Schmidt äußerte, bezogen auf das Treffen in Reykjavík, entscheidend sei nicht Reagan, sondern das Pentagon. Genosse Gorbatschow habe offensichtlich den Fehler gemacht, Reagan mehr Einfluss zuzutrauen, als er tatsächlich habe. Hintergrund des Auftretens von Genossen Gorbatschow in der Weltöffentlichkeit sei nach Auffassung Schmidts dessen Absicht gewesen, Reagan in der Öffentlichkeit »vorzuführen«, und sein Ziel, vor allem um Europa und gegen die USA zu ringen. Reykjavík sei nur ein Punkt in der Gesamtstrategie der Sowjetunion.

Schmidt äußerte die Absicht, sich entsprechend eines Vorschlages der evangelischen Kirchen in der BRD anlässlich des Kirchentages in Frankfurt/Main 198735 für ein Podiumsgespräch mit einem führenden DDR-Politiker bereit zu halten. Als möglichen Partner nannte er das Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, Genossen Mittag.36

Schmidt kündigte außerdem an, seinen in Potsdam gehaltenen Vortrag in der BRD-Zeitung »Die Zeit« veröffentlichen zu lassen.37

  1. Zum nächsten Dokument Mindestumtausch 20.10.–26.10.1986

    29. Oktober 1986
    Information Nr. 487/86 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 20. Oktober 1986 bis 26. Oktober 1986

  2. Zum vorherigen Dokument Provokation an der Berliner Mauer durch einen US-Bürger (8)

    [ohne Datum]
    Information Nr. 486/86 über die erneute Festnahme des Staatsbürgers der USA, Runnings, John, am 25. Oktober 1986