Oppositioneller Appell zum UNO-Jahr des Friedens
11. März 1986
Information Nr. 106/86 über die provokatorische Veröffentlichung und Publizierung eines von Exponenten politischer Untergrundtätigkeit verfassten sogenannten Appells zum UNO-Jahr des Friedens in Zeitungs- und Funkmedien der BRD und Westberlins
Die dem MfS hinlänglich bekannten feindlich-negativen Personen Eppelmann, Rainer,1 Pfarrer, Hirsch, Ralf,2 Friedhofsarbeiter bei der evangelischen Kirche, Grimm, Peter,3 Einkäufer für Materialwirtschaft im VEB Transformatoren- und Röntgenwerk Berlin-Köpenick, Templin, Wolfgang,4 zurzeit beschäftigungslos (alle Berlin), verfassten mit Datum vom 27. Januar 1986 einen »Appell zum UNO-Jahr des Friedens« und sandten diesen als Briefsendung mit Ablieferungsschein an die »Regierung der DDR« (Wortlaut siehe Anlage).5
Dieser sogenannte Appell zum UNO-Jahr des Friedens6 enthält provokative Forderungen u. a. nach
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»uneingeschränkter Reisefreiheit«,
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einer »Amnestie für alle gemäß der §§ 99,7 106,8 1079 und 21810 StGB Verurteilten« und »Einstellung aller« auf dieser Rechtsgrundlage »laufenden Ermittlungsverfahren«,
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»Aufstellung unabhängiger Kandidaten für Kommunal- und Volkswahlen«,11
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»Versammlungs-, Kundgebungs- und Vereinigungsfreiheit« und nach Aufhebung der gesetzlichen Bestimmungen über die Durchführung von Veranstaltungen und zur Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen,
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»Legalisierung der Wehrdienstverweigerung12 und Amnestie für alle nach § 256 StGB13 Verurteilten sowie Einstellung aller« auf dieser Rechtsgrundlage »eingeleiteten Ermittlungsverfahren«.
(Aufgrund einer zentralen Entscheidung wurde der Brief nicht weitergeleitet.)
Wie dem MfS weiter intern bekannt wurde, übergab der Hirsch in der Absicht der breiten Publizierung dieses Pamphlets in den Westmedien und mit dem Ziel, damit Druck auf die Regierung der DDR ausüben zu wollen, in einen offiziellen Dialog der hinter diesem »Appell« stehenden Kräfte mit Vertretern der Regierung der DDR zu kommen, Abschriften des Briefes an einen Mitarbeiter der Redaktion des BRD-Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« sowie dem in der DDR akkreditierten Korrespondenten Merseburger/ARD14 und dem Journalisten Röder/epd.15
Nach dieser am 26. Februar 1986 erfolgten Übergabe kam es ab dem 2. März in westlichen Massenmedien – u. a. »Der Spiegel«,16 »Berliner Morgenpost«,17 »Die Welt«18 sowie in den Funkmedien – zu zum Teil umfangreichen oder vollständigen Textwiedergaben bzw. Kommentaren zum Inhalt des sogenannten Appells zum UNO-Jahr des Friedens unter Hervorhebung, dass hinter den Verfassern kirchliche Friedenskräfte/-gruppierungen stehen würden.
Bekannt wurde ferner, dass der genannte Hirsch den Appell darüber hinaus in ca. 80 Exemplaren vervielfältigte, von denen einzelne während des sogenannten 4. Zentralen »Friedensseminares« von »Friedenskreisen« der evangelischen Kirchen in der DDR (28.2. bis 2.3.1986 in Stendal, [Bezirk] Magdeburg)19 durch die hinlänglich bekannte Bärbel Bohley20 verbreitet wurden.
Am 3. März 1986 wies der Hauptabteilungsleiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen der DDR, Heinrich,21 in einem Gespräch mit dem Leiter des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Ziegler,22 die Veröffentlichung des »Appells« in den Westmedien als Provokation zurück. Mit aller Deutlichkeit wurde Ziegler gegenüber erklärt, dass die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg ihren gegenüber zuständigen staatlichen Organen der DDR abgegebenen Zusicherungen nicht nachgekommen sei, Pfarrer Eppelmann zu beeinflussen, sich politischen Aktivitäten mit Öffentlichkeitswirkung zu enthalten.
Ziegler sicherte eine Überprüfung des Sachverhaltes gemeinsam mit der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg zu, über deren Ergebnis er zu informieren beabsichtigt.
Es wird vorgeschlagen, dass – unabhängig vom Gespräch des Genossen Heinrich mit Ziegler – der Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR, Gysi,23 umgehend ein Gespräch mit Bischof Forck/Berlin24 und Konsistorialpräsident Stolpe/Potsdam25 führt, in dem staatlicherseits die Veröffentlichung des genannten »Appells« in westlichen Medien als Provokation energisch zurückgewiesen und die wirksame Disziplinierung insbesondere von Pfarrer Eppelmann gefordert werden. Gleichzeitig sollte darauf verwiesen werden, dass durch ein derartiges Vorgehen seitens kirchlicher Personen u. a. Kräfte das Verhältnis Staat-Kirche erheblich belastet und die großzügige staatliche Unterstützung im Zusammenhang mit geplanten kirchlichen Großveranstaltungen, u. a. dem Kirchentag 1987 in Berlin,26 gefährdet wird.
Ein analoges Gespräch sollte der Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres der Hauptstadt der DDR, Berlin, Stadtrat Hoffmann,27 mit Generalsuperintendent Krusche/Berlin28 führen.
Durch das MfS sind weitere Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhaltes, der rechtlichen Einschätzung des »Appells« und zur Kontrolle von Folgeaktivitäten im Zusammenhang mit dem »Appell zum UNO-Jahr des Friedens« eingeleitet.
Anlage zur Information Nr. 106/86
Appell zum UNO-Jahr des Friedens!
27. Januar 1986 | An die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, 1020 Berlin, Marx-Engels-Platz
»Solange die international anerkannten Menschenrechte verletzt werden, kann kaum von Frieden gesprochen werden, denn jegliche Beeinträchtigung der Menschenrechte, gleich in welcher Gesellschaft, gefährdet den Frieden« (Aus dem Brief an die Teilnehmer der XII. Weltfestspiele in Moskau)29
Die UNO hat das Jahr 1986 zum Jahr des Friedens erklärt. Nach dem Mut machenden Anfang mit dem beachtenswerten Vorschlag des Generalsekretärs der KPDSU, Michail Gorbatschow, sind nun entsprechend einer Forderung von Michail Gorbatschow alle Staaten und alle Bürger aufgefordert, ihren entsprechenden Beitrag zu leisten.30
Im Bewusstsein unserer Mitverantwortung bei der Erhaltung des Friedens und für die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Land wollen wir, wie bereits zum UNO-Jahr der Jugend,31 unsere Vorstellungen zu einigen Problemen der Innenpolitik darlegen. Wir möchten in unserem Appell auf den inneren Frieden eingehen, da nach unserer Meinung nur ein innenpolitisch friedlicher Staat auch nach außen wirklich überzeugend für den Frieden wirken kann. Innerer Frieden bedeutet für uns, die Garantie und praktische Durchsetzung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegten Grundrechte zu vervollkommnen. Besonders das UNO-Jahr des Friedens sollte auch der Regierung der DDR Anlass sein, in dieser Richtung positive Veränderungen durchzusetzen. Als erste Schritte zur vollen Durchsetzung der Menschenrechte sind nach unserer Meinung folgende Maßnahmen notwendig und in diesem Jahr auch realisierbar. Alle Vorschläge sollten in öffentlicher, gesellschaftlicher Diskussion behandelt und geprüft werden.
- 1.
Die Einschränkungen der Reisefreiheit empfinden wir als Misstrauen der Regierung gegenüber den Bürgern. Reisen in das westliche Ausland sind noch immer nur in Ausnahmefällen (und wirken oft als Belobigung für gesellschaftliches Wohlverhalten) und für die Rentner und Invalidenrentner möglich. Auch die Reisemöglichkeiten in das sozialistische Ausland wurden in Einzelfällen ohne Begründung eingeschränkt oder vollständig verwehrt, wie es im Jahr 1985 auffallend häufig geschah.
Zur Vertrauensbildung erachten wir hierbei u. a. als notwendig:
- a.
Die uneingeschränkte Reisefreiheit aller Bürger steht als gesellschaftliches Ziel. Aufgrund der ökonomischen und politischen Situation der DDR wird dieses Ziel nur Schrittweise zu erreichen sein.
- b.
Die gesetzliche Garantie der bestehenden Reiseregelungen, d. h. Begründungspflicht bei Ablehnung und die gesetzliche Möglichkeit, dieses Recht gesetzlich einzuklagen.
- c.
Die schrittweise Erweiterung der Reisemöglichkeiten, die nicht als Privileg oder willkürlich zu gewähren sind, sondern der detaillierten gesetzlichen Festlegungen bedürfen.
- d.
Einschränkungen bei a, b und c sind nur im Falle einer strafrechtlichen Verfolgung möglich und müssen den Bürger schriftlich begründet werden.
- a.
- 2.
Die §§ 99 (Landesverräterische Nachrichtenübermittlung), 106 (Staatsfeindliche Hetze), 107 (Verfassungsfeindlicher Zusammenschluss) und 218 StGB (Verfassungsfeindlicher Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele) usw. können so ausgelegt werden, dass sie elementare Menschenrechte einschränken. Die Praxis der juristischen Verfolgung politischen Engagements ist insgesamt fragwürdig.
Daher ist Folgendes nach unserer Meinung unumgänglich:
- a.
Eine Amnestie für alle nach § 99, § 106, § 107 und § 218 und anderen Verurteilten, sowie die Einstellung aller aufgrund dieser Paragrafen laufenden Ermittlungsverfahren.
- b.
Von dieser Amnestie sollte nur ausgeschlossen bleiben, wer aufgrund der Verherrlichung von Faschismus, Militarismus oder Rassen- und Kriegshetze verfolgt wird oder verurteilt wurde.
- c.
Die Volkskammer sollte über die weitere Anwendung dieser und ähnlicher Paragrafen beraten. Dazu ist es nötig, zu dieser Frage eine Volksaussprache in Form einer allgemeinen Meinungsumfrage durchzuführen.
- a.
- 3.
Als vertrauensbildende Maßnahme und als Schritt zur Erweiterung der Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung halten wir die Aufstellung unabhängiger Kandidaten zu Kommunal- und Volkskammerwahlen für unerlässlich.
- a.
Jeder muss das Recht erhalten, einen Bürger mit dessen Einverständnis als Kandidat aufzustellen.
- b.
Jeder Bürger muss sich selbst aus eigener Entscheidung als Kandidat zur Wahl stellen können.
- c.
Als Voraussetzung zur Kandidatur gelten allein [die] Staatsbürgerschaft der DDR und das vollendete 18. Lebensjahr.
- a.
- 4.
Die Versammlungs-, Kundgebungs- und Vereinigungsfreiheit wird stark eingeschränkt durch die Möglichkeit und Praxis der Ablehnung von Anträgen auf Genehmigung von Versammlungen, Kundgebungen und Gründung von Vereinigungen. Daher meinen wir, dass es notwendig ist, bestehende Gesetze und Bestimmungen dahingehend zu ändern:
- a.
Versammlungen, Kundgebungen und die Gründung von Vereinigungen dürfen nicht von staatlicher Genehmigung abhängig sein, sondern die zuständigen staatlichen Organe müssen nur darüber informiert werden.
- b.
Versammlungen, Kundgebungen und Vereinigungen bzw. deren Gründung können nur verboten werden, wenn deren Ziele nachweislich faschistischen, militaristischen, rassistischen oder terroristischen Inhalts sind.
- a.
- 5.
Die Legalisierung der Wehrdienstverweigerung durch die Schaffung eines von jeglichen militärischen Strukturen unabhängigen zivilen Ersatzdienstes32 wäre besonders im UNO-Jahr des Friedens ein deutliches Zeichen des Friedenswillens, sowohl für den inneren als auch den äußeren Frieden. Gleichzeitig sind folgende Veränderungen nötig:
- a.
Eine Amnestie für alle nach § 256 (Wehrdienstverweigerung, Reservistendienstverweigerung und Wehrdienstentziehung) Verurteilten sowie Einstellung aller aufgrund dieses Paragrafen eingeleiteten Ermittlungsverfahren.
- b.
Die Abschaffung des Wehrkundeunterrichts an den Polytechnischen Oberschulen.33
- c.
Die Teilnahme an der vormilitärischen Ausbildung darf keine Bedingung für den Abschluss eines Lehrvertrages bzw. für die Aufnahme eines Hoch- und Fachschulstudiums sein.
- a.
- 6.
Für eine Grundvoraussetzung des inneren Friedens halten wir die Bereitschaft der Regierung der DDR zum Dialog auch mit Andersdenkenden. Daher schlagen wir vor, dass die Regierung der DDR auf Stellungnahmen, Kritiken, Vorstellungen und Vorschläge auch von Andersdenkenden, möglichst auch öffentlich, eingeht und sachlich reagiert (was z. B. 1985 beim Brief zum Jahr der Jugend und anderen leider versäumt wurde).34
Dieser Appell soll unsere Vorstellungen verdeutlichen, wie im Jahr des Friedens ein Prozess konstruktiver Veränderungen beginnen könnte.
Darüber wollen wir gerne mit Ihnen oder anderen verantwortlichen staatlichen Stellen in einen offenen und verständnisvollen Meinungsaustausch treten.
Peter Grimm, 1162 Berlin, [Straße, Nr.], Ralf Hirsch, 1035 Berlin, [Straße], Rainer Eppelmann, 1035 Berlin, [Straße, Nr.], Wolfgang Templin, 1100 Berlin, [Straße, Nr.]