Reaktion auf Gorbatschows Reden in Wladiwostok und Chabarowsk
14. August 1986
Hinweise über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Reden des Genossen Gorbatschow in Wladiwostok und Chabarowsk [O/165]
Die Ausführungen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow,1 in Wladiwostok2 und Chabarowsk vor dem Parteiaktiv dieser Region3 standen im Mittelpunkt vielfältiger Diskussionen und Meinungsäußerungen.
Nahezu ungeteilte Zustimmung fanden die in diesen Reden erneut enthaltenen Initiativen zur Beendigung des Wettrüstens sowie die auf die Festigung der Sicherheit im asiatisch-pazifischen Raum abzielenden Vorschläge.
Vor allem progressive Bürger hoben in Meinungsäußerungen hervor,
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die UdSSR nutze jede Möglichkeit, ihren unbedingten Friedenswillen vor aller Welt zu dokumentieren;
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sie unterbreite immer wieder konkrete Vorschläge, um das internationale Klima, das Vertrauen der Völker untereinander zu verbessern;4
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die sowjetische Führung unternehme alles Machbare, damit echte Fortschritte im Interesse der Friedenserhaltung erreicht werden können.
Große Aufmerksamkeit fanden auch die vom Genossen Gorbatschow aufgezeigten Lösungswege zur Überwindung von Konfliktsituationen in Asien und im Pazifikraum.
Bezug nehmend auf die Ausführungen des Genossen Gorbatschow zum Verhältnis der UdSSR zur Volksrepublik China wurde besonders die Bereitschaft der UdSSR begrüßt, die zwischenstaatlichen Beziehungen spürbar zu verbessern. Die sowjetischen Kompromissangebote seien vielversprechend für die künftige Entwicklung zu werten. Darüber hinaus wäre die gegenwärtige China-Politik der UdSSR auch als eine Maßnahme zu sehen, die USA zu konkreten Abrüstungsschritten zu veranlassen.
Die angekündigte Bereitschaft der UdSSR, Truppenkontingente und militärische Ausrüstungen aus Afghanistan5 in das Heimatland zurückzuführen, wurde mehrheitlich als geeigneter Schritt bewertet, die Lage in diesem Raum weiter zu stabilisieren und politische Regelungen zu beschleunigen. Damit könne weiteren Meinungsäußerungen zufolge der westlichen Verleumdungskampagne gegen die Sowjetunion noch wirksamer begegnet werden.
Vorwiegend politisch interessierte Bürger, darunter Mitarbeiter des Staatsapparates, Arbeiter und Angestellte volkseigener Betriebe, argumentierten, der Abzug von einem Teil der sowjetischen Truppen aus Afghanistan und der Mongolischen Volksrepublik6 sei Ausdruck einer flexiblen Außenpolitik der UdSSR. Sie schaffe günstige Voraussetzungen für weitere Abrüstungsverhandlungen.
Im Zusammenhang mit der Ankündigung von Verhandlungen mit der Führung der Mongolischen Volksrepublik über den Abzug sowjetischer Truppen aus der Mongolei äußerten Angestellte der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg, [Bezirk] Halle, ihre Verwunderung darüber, dass in diesem Land sowjetische Truppen stationiert sind.
Nur in Einzelfällen wurde besorgt geäußert, der Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan sei verfrüht. Er eröffne den konterrevolutionären Kräften neue Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Ziele.
Die Vielzahl der bisher durch die Sowjetunion einseitig durchgeführten Abrüstungsschritte, so wurde weiter argumentiert, stelle ein Risiko für die sozialistische Staatengemeinschaft dar, weil deren Sicherheit nicht mehr umfassend gewährleistet werden könne.
Darüber hinaus wurden aus dem Bezirk Magdeburg im Zusammenhang mit der Diskussion über vorgesehene Truppenabzüge Einzelmeinungen bekannt, wonach auch die in der DDR stationierten Truppen der GSSD in die Reduzierung von Streitkräften einbezogen werden sollten.
Nach Auffassung breiter Bevölkerungsschichten, darunter Angestellte und Angehörige der pädagogischen und wissenschaftlich-technischen Intelligenz, stellten die vorgesehenen Maßnahmen der UdSSR im asiatischen und pazifischen Raum sowie ihre weitreichenden Initiativen zur Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen beste Voraussetzungen zur Einstellung des Wettrüstens dar. Sie verlangten von den USA, substantielle, die militärische Parität wahrende Vorschläge zur Gesundung der internationalen Situation zu unterbreiten sowie den Verlauf von Abrüstungsverhandlungen zu beschleunigen.
Weiteren Meinungsäußerungen zufolge dürften sich die USA nicht bei alleinigen Prüfungen der von der sowjetischen Seite unterbreiteten Vorschläge aufhalten, sondern müssten ihren vor der Weltöffentlichkeit oft beteuerten »guten Willen« zur Erzielung positiver Ergebnisse unter Beweis stellen. Mit besonderer Erwartung wird daher einem erneuten Zusammentreffen von Genossen Gorbatschow mit dem USA-Präsidenten Reagan7 entgegengesehen.
In diesem Zusammenhang wurde jedoch auch wiederholt Skepsis geäußert hinsichtlich der Bereitschaft der Reagan-Administration, ihren aggressiven außenpolitischen Kurs zu ändern und zu echten Verhandlungsergebnissen zwischen beiden Großmächten beizutragen.
Es besteht die Auffassung, die USA werden ihre Politik der Stärke ungeachtet aller Proteste bzw. Forderungen der gesamten Menschheit uneingeschränkt fortsetzen und auch auf weitere Kernwaffentests zur Erlangung militärischer Überlegenheit nicht verzichten.
Unter Bezugnahme auf die Rede des Genossen Gorbatschow in Chabarowsk wird immer wieder in Meinungsäußerungen von Werktätigen anerkennend hervorgehoben, mit welcher Konsequenz die Führung der KPdSU den auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU8 beschlossenen innenpolitischen Kurs fortsetze.
Arbeiter, Angestellte sowie leitende Kader aus volkseigenen Betrieben und Einrichtungen, Mitarbeiter des Staatsapparates, der pädagogischen, medizinischen und technischen Intelligenz sowie Wissenschaftler zeigen sich beeindruckt von der sachlichen und konstruktiven, in verständlichen Worten gehaltenen Einschätzung der innenpolitischen Lage durch die sowjetische Partei- und Staatsführung. Sie charakterisieren den Genossen Gorbatschow als einen weitsichtigen Politiker, der mit Engagement und Konsequenz an die Lösung bestehender Probleme herangeht und wesentlich zur Mobilisierung der Werktätigen des Landes beiträgt. Seine offene und kritische Art findet dabei besondere Anerkennung, da durch ihn Mängel und Missstände ungeschminkt zur Sprache kämen, ohne Rücksichtnahme auf Ansehen und Funktion der dafür Verantwortlichen. Dieses sei als Beweis der Stärke der KPdSU und ihrer Führung zu werten.
In Einzelfällen zweifelten Werktätige aus verschiedenen Industriezweigen an, dass aus den Reden des Genossen Gorbatschow in der UdSSR auch tatsächlich die richtigen Schlussfolgerungen gezogen und in der täglichen Praxis umgesetzt werden. Darüber hinaus wurde die Frage aufgeworfen, wieso genannte Missstände erst nach einer derart langen Zeit aufgedeckt würden.
Vereinzelt wurde auch bezweifelt, dass ein derartiges kritisches Herangehen an die vorhandenen Probleme in aller Öffentlichkeit zur Erhöhung des Ansehens der UdSSR beitrage.
Bei allen bekannt gewordenen Meinungsäußerungen zur Chabarowsker Rede zu ökonomischen Prozessen in der Sowjetunion wurden immer wieder, wie bereits im Zusammenhang mit Reaktionen auf den XXVII. Parteitag der KPdSU festgestellt, Bezüge zur Entwicklung in der DDR hergestellt.9 Werktätige volkseigener Betriebe und Einrichtungen, darunter zahlreiche wirtschaftsleitende Kader, argumentieren u. a.,
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durch fehlende Offenheit und vorwärtsweisende Kritik hätten sich in der DDR Probleme angehäuft, die gegenwärtig nicht gelöst werden könnten,
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Missstände und zunehmende Verluste in Bereichen der Volkswirtschaft seien die Folge von Bevormundung der Betriebe sowie administrativer Wirtschaftsführung,
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wir als DDR könnten noch größere ökonomische Erfolge erreichen, wenn diese Prozesse straffer geführt werden würden.
Wiederholt wurde in diesem Zusammenhang auf solche Erscheinungen verwiesen wie Nichteinhaltung der Arbeitsdisziplin, administrative und bürokratische Arbeitsweise staatlicher und wirtschaftsleitender Organe, unzureichende Auslastung von hochproduktiven Maschinen und Anlagen, gravierende Mängel in der Ersatzteilversorgung und Ähnliches.
Wiederholt wurde betont, im Interesse einer schöpferischen Umsetzung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED10 sei es notwendig, eingefahrene Gleise in der Umsetzung der Wirtschaftsstrategie der Partei zu verlassen und mehr Konsequenz bei der Um- und Durchsetzung der Beschlüsse von den zuständigen Leitungsebenen zu fordern.
Nach weiter vorliegenden Hinweisen über Meinungsäußerungen von Werktätigen aus den Bezirken Gera und Karl-Marx-Stadt11 wurde darauf verwiesen, dass sich Genosse Gorbatschow im Fernen Osten mit allen Problemen und Schwierigkeiten der Werktätigen vertraut gemacht habe. Das sei in der DDR schon deshalb nicht möglich, weil hohe Partei- und Staatsfunktionäre bei Besuchen in Betrieben, Einrichtungen bzw. Orten der Republik derart »abgeschirmt« würden, dass sie die wahren Schwierigkeiten und Probleme gar nicht erst erfahren würden.
Mitarbeiter des Staatsapparates sowie Angehörige der technischen und ökonomischen Intelligenz, darunter Leitungskader, erachteten es verschiedentlich als notwendig, ehrlicher an die Frage der Kritik und Selbstkritik heranzugehen. Es wäre an der Zeit, auch in der DDR eine deutliche Sprache zu sprechen, erforderliche Schlussfolgerungen und Konsequenzen hinsichtlich des Überwindens von Mängeln und Missständen sowie unzureichender Leitungstätigkeit zu ziehen.
Sie sind der Auffassung, die in den Reden des Genossen Gorbatschow aufgezeigten Probleme seien bei Beachtung vorhandener Unterschiede auch in der DDR feststellbar. Es müsse Schluss gemacht werden mit solchen Erscheinungen wie
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der angeblich subjektiven Lageeinschätzung in den Bereichen der Volkswirtschaft von »unten nach oben«,
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der fortgesetzten Erfolgspropaganda in den Massenmedien im Zusammenhang mit den statistischen Berichten über die Ergebnisse der Volkswirtschaft, da sie im Widerspruch zur täglich erlebten Praxis in zahlreichen Betrieben stünden,
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einer nicht qualitäts- und sortimentsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und Industriewaren, mit den permanenten Schwierigkeiten in der Ersatzteilversorgung für den Bevölkerungsbedarf.
In diesem Zusammenhang wäre es ihrer Meinung nach ebenfalls begrüßenswert, wenn analog dem Vorgehen in der UdSSR einzelne Funktionäre und Leiter, die ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden, konsequenter zur Verantwortung gezogen würden. Die Durchsetzung eines straffen Leitungsstils in allen Bereichen der Volkswirtschaft sei auch für die DDR ein dringendes Erfordernis.