Reaktionen auf das Treffen Reagan Gorbatschow in Reykjavík
20. Oktober 1986
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf das Treffen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, mit dem USA-Präsidenten Reagan in Reykjavík [O/167]
Nach vorliegenden Informationen aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, wurden das Treffen zwischen den führenden Repräsentanten der UdSSR und den USA, insbesondere jedoch die Ausführungen des Genossen Gorbatschow1 auf der internationalen Pressekonferenz und im sowjetischen Fernsehen, mit außerordentlich großer Aufmerksamkeit verfolgt. 2
Mehrheitlich wurde das Zustandekommen des Treffens als Resultat des beharrlichen Ringens der UdSSR um die Einstellung des Wettrüstens, um nukleare Abrüstung bewertet. In vielfältigen Meinungsäußerungen finden die von der sowjetischen Delegation unterbreiteten Abrüstungsvorschläge ungeteilte Zustimmung. 3 Häufig wird betont, die UdSSR sei damit bis an die Grenze des Vertretbaren gegangen.
Werktätige aus allen Bereichen der Volkswirtschaft sowie zahlreiche Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz zeigten sich beeindruckt von der klugen Verhandlungsführung der sowjetischen Delegation sowie von dem souveränen und engagierten Auftreten des Generalsekretärs des ZK der KPdSU vor der Weltöffentlichkeit, von seiner klaren, eindeutigen und überzeugenden Argumentation.
Insbesondere Angehörige der medizinischen Intelligenz sowie kirchliche Amtsträger waren überrascht vom Ausmaß des Entgegenkommens und der Kompromissbereitschaft der Sowjetunion. Dieses Treffen – so wurde vielfach argumentiert – habe zum wiederholten Male und eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wer tatsächlich um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung bemüht ist.
In großer Übereinstimmung wird argumentiert, dass beiderseits annehmbare Vereinbarungen nur gescheitert sind an der starren, unnachgiebigen Haltung des USA-Präsidenten Reagan, 4 der sich damit eindeutig als Interessenvertreter des Militär-Industrie-Komplexes der USA entlarvt habe. Namhafte Wissenschaftler der Akademie der Wissenschaften der DDR betonten, Reagan habe die gebotene Möglichkeit aufs Spiel gesetzt, die Menschheit von der tödlichen Gefahr der Kernwaffen und einer Militarisierung des Weltraumes zu befreien.
So erklärten der Direktor des Zentralinstituts für Kybernetik und Informationsprozesse der AdW und weitere leitende Mitarbeiter der AdW, die Unterzeichnung von Verträgen über die Reduzierung strategischer Waffen und Mittelstreckenraketen ohne gleichzeitige Einschränkung der Aktivitäten zur Verwirklichung des SDI-Programms5 wären eine Farce. Deshalb sei der konsequenten Haltung des Genossen Gorbatschow in dieser Frage nur zuzustimmen.
Ungeachtet dieser Grundtendenzen in der Diskussion äußerten sich zahlreiche Werktätige trotz Hinweis darauf, vor Beginn des Treffens keine Illusionen bezüglich des Abschlusses konkreter Vereinbarungen gehabt zu haben, enttäuscht über den Ausgang des Treffens, da sie zumindest mit gewissen Teilergebnissen gerechnet hätten, In diesem Sinne äußerten sich u. a. Mitarbeiter des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin, weitere Angehörige der medizinischen Intelligenz, jugendliche Personenkreise sowie Arbeitskollektive aus VEB, darunter des VEB Zinnerz Altenberg, [Bezirk] Dresden, und Genossenschaftsbauern.
Charakteristisch hierfür sind solche Auffassungen wie:
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Wieder ist kein sichtbarer Schritt nach vorn erreicht worden.
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Es scheine unmöglich, die USA vom SDI-Projekt abzubringen.
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Es ist so gekommen, wie es bereits absehbar war, und es wird auch in Zukunft nicht anders sein.
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Es sei deprimierend, dass Reagan mit leeren Händen nach Reykjavík kam.
Vereinzelt wurde die Frage aufgeworfen, ob es nicht zweckmäßiger gewesen wäre, seitens der UdSSR auf dem Treffen eine »Politik der kleinen Schritte« zu verfolgen. Dabei wurde der Standpunkt vertreten, eine zeitweilige Ausklammerung des SDI-Projektes aus der Diskussion hätte möglicherweise zu wesentlichen Fortschritten bei der Erzielung einer Übereinkunft über die Begrenzung der strategischen Waffen führen können. Teilweise beeinflusst durch entsprechende Sendungen westlicher elektronischer Massenmedien wurde in Einzeldiskussionen wiederholt behauptet, die sowjetische Delegation hätte nicht unter dem Motto »Alles oder nichts« verhandeln dürfen.
Typisch für derartige Standpunkte sind folgende Argumente:
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Die Vorschläge der UdSSR in »Paketform« seien für die USA unannehmbar gewesen,
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Schuld am Scheitern des Treffens sei der Generalsekretär des ZK der KPdSU durch seine starre Haltung.
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Das Treffen sei ein Manöver der UdSSR gewesen, um das SDI-Projekt der USA zum Scheitern zu bringen. Mit dieser Zielstellung sei die Ergebnislosigkeit des Treffens vorprogrammiert worden,
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Die UdSSR habe sich nur deshalb zu solchen weitgehenden Zugeständnissen bereit erklärt, da ihr von Anbeginn klar war, dass die USA nicht von ihrem SDI-Programm abrücken.
Hinweise über derartige Auffassungen liegen aus mehreren Bezirken der DDR vor. Sie wurden von Personen, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen tätig sind, vertreten.
Die Meinungsäußerungen über den Fortgang der Entwicklung nach dem Treffen sind sehr differenziert. Nach bisherigen Feststellungen überwiegt besonders unter progressiven Kräften die Auffassung, dass die weitreichenden Vorschläge der UdSSR nachhaltige Wirkungen hinterlassen und zu einem fortschreitenden Differenzierungsprozess unter westlichen Politikern führen werden.
Unter Hinweis darauf, dass Reagan durch sein starres Festhalten an SDI eine Vereinbarung über den Abzug aller Mittelstreckenraketen aus Europa verhindert und damit seine NATO-Verbündeten in eine schwierige Lage gebracht hätte, wird besonders seitens der westeuropäischen NATO-Staaten mit zunehmender Druckausübung gegenüber den USA gerechnet.
Im Hinblick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen in der BRD6 werden scharfe Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsparteien und der Opposition im Zusammenhang mit den gegensätzlichen Positionen zu Fragen der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung erwartet.
Vielfach wird Genugtuung geäußert über die Bereitschaft der UdSSR, trotz der destruktiven Haltung der USA an den in Reykjavík unterbreiteten Vorschlägen festzuhalten und den eingeschlagenen Kurs entschlossen fortzusetzen.
Des Weiteren wurde argumentiert, da die sowjetische Seite die Tür für Verhandlungen nicht zugeschlagen habe, bestehe die Hoffnung, auf lange Sicht dennoch zu beiderseitig annehmbaren Lösungen zu kommen. Viel hänge jedoch davon ab, ob es gelinge, die internationale Friedensbewegung weiter zu stärken und ihren Einfluss zu erhöhen.
Wiederholt brachten jedoch progressive Kräfte ihre Befürchtung zum Ausdruck, dass das sowjetische Moratorium für Nukleartests und die neuen sowjetischen Abrüstungsvorschläge zu einer möglichen Verschiebung des militärischen Gleichgewichts zugunsten der USA führen könnten. Vereinzelt trat die Frage auf, ob die Sowjetunion dem SDI-Projekt etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen habe.
In vielfältigen Diskussionen in Arbeitskollektiven von Werktätigen aus Betrieben und Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden jedoch auch Zweifel und Skepsis hinsichtlich der Erzielung entsprechender Vereinbarungen mit den USA geäußert, die in der Regel mit der unnachgiebigen Haltung der USA-Administration gegenüber dem SDI-Projekt in Zusammenhang gebracht werden.
So wird u. a. argumentiert:
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Durch das Festhalten der USA am SDI-Projekt sei jegliche Verhandlungsgrundlage entzogen.
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Es sei eine Illusion zu glauben, dass USA-Präsident Reagan Abrüstungsmaßnahmen zustimme, die sich gegen die Profitinteressen des Militär-Industrie-Komplexes richten.
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Solange der Militär-Industrie-Komplex in den USA und in anderen NATO-Staaten den bestimmenden Einfluss auf die Regierungen dieser Länder ausübe, gebe es keine Möglichkeiten der Rüstungsbegrenzung.
Obwohl die von Genossen Gorbatschow erklärte Verhandlungsbereitschaft begrüßt wird, wurde wederholt die Frage nach entsprechenden Erfolgsaussichten gestellt. Vielfach wurde Besorgnis geäußert über die mögliche Gefahr einer neuen Runde des Wettrüstens und daraus resultierende negative Folgen für die weitere sozialökonomische Entwicklung in der UdSSR und in der DDR. Statt einer Wiederbelebung der Entspannungsphase müsse nunmehr mit einer weiteren Verschärfung des Konfrontationskurses der USA gegenüber den sozialistischen Staaten gerechnet werden.
Meinungsäußerungen von unter politisch-operativer Kontrolle stehenden Personen wurden bisher nur im geringen Umfang bekannt. Einzelhinweisen zufolge interessierten sich besonders Übersiedlungsersuchende7 für Gesprächsinhalte der während des Treffens in Reykjavík tätig gewesenen Arbeitsgruppe für humanitäre Angelegenheiten. Sie bemängelten, dass Genosse Gorbatschow darüber keine Ausführungen gemacht habe. Außerdem behaupteten sie, derartige Treffen zwischen führenden Repräsentanten der UdSSR und den USA müssten an den tiefgreifenden Differenzen in Menschenrechtsfragen, besonders an der starren Haltung der sozialistischen Staaten in Fragen des Reiseverkehrs in nichtsozialistische Staaten, scheitern.
Hinlänglich bekannte Mitglieder des »Friedenskreises« Alt-Friedrichsfelde-Berlin8 äußerten sich abfällig und abwertend über die Anstrengungen der UdSSR, zu Abrüstungsvereinbarungen mit den USA zu gelangen. Sie bewerteten das Treffen als »sinnlos«. Beide Politiker würden sich jetzt gegenseitig die Schuld am Scheitern der Verhandlungen zuschieben.
Von ausnahmslos allen sich zum Treffen in Reykjavík äußernden Personen wurde die umfassende und aktuelle Berichterstattung in den Massenmedien der DDR positiv hervorgehoben.