Reaktionen auf den XI. SED-Parteitag (1)
18. April 1986
Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR zum Inhalt und Verlauf des XI. Parteitages der SED [O/161a]
Nach vorliegenden Informationen aus allen Bezirken der DDR werden Inhalt und Verlauf des XI. Parteitages der SED1 durch breiteste Kreise der Bevölkerung mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.
In vielfältigen Diskussionen von Parteimitgliedern und parteilosen Bürgern wird insbesondere die Teilnahme des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow,2 an der Spitze der Delegation der KPdSU begrüßt.
Seine Anwesenheit wird übereinstimmend als Anerkennung und Würdigung der durch die SED geleisteten Arbeit bei der Um- und Durchsetzung der abgestimmten Friedenspolitik sowie des Beitrages der DDR zur Festigung der Einheit und Geschlossenheit der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft, als Ausdruck des festen Bruderbundes zwischen SED und KPdSU gewertet.
Große Zustimmung fand das Auftreten des Genossen Gorbatschow anlässlich seiner Rundfahrt durch die Hauptstadt der DDR. Durch seine herzliche, offene und ungezwungene Art bei Begegnungen mit DDR-Bürgern habe er sich viele Sympathien erworben. Diese Eigenschaften werden eingeordnet in sein sachliches und kritisches Herangehen an die zu lösenden komplizierten Aufgaben in der UdSSR.
Die Vielzahl weiterer auf dem XI. Parteitag anwesender Gastdelegationen – vor allem das sich darin widerspiegelnde breite Spektrum unterschiedlichster politischer Parteien und Befreiungsorganisationen – wird ebenfalls als Zeichen der hohen Wertschätzung der SED im internationalen Maßstab charakterisiert.
Zu einigen ersten vorliegenden Reaktionen auf den Rechenschaftsbericht des ZK der SED an den XI. Parteitag:
Große Resonanz und Zustimmung findet die im Bericht enthaltene Orientierung auf konsequente Weiterführung des außenpolitischen Kurses der SED, einschließlich der Fortsetzung des politischen Dialogs, im Interesse der Erhaltung und Festigung des Friedens.
In diesem Zusammenhang werden vereinzelt Spekulationen über einen angeblich unmittelbar nach dem XI. Parteitag stattfindenden Besuch des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker,3 in der BRD angestellt.
Die im Bericht enthaltene Bilanz der gesellschaftlichen Entwicklung seit dem X. Parteitag der SED4 und die Fortsetzung der bewährten Gesellschaftsstrategie wird mehrheitlich unterstützt und als Ausdruck der klugen und weitsichtigen, auf das Wohl des Volkes gerichteten Politik der Partei gewertet. Mit großer Aufmerksamkeit wurde die Feststellung, dass der Sozialismus noch nicht vollkommen sei, registriert, wobei vereinzelt geäußert wurde, man hätte sich an dieser Stelle – analog des Politischen Berichtes auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU5 – einige kritischere Worte besonders im Zusammenhang mit Problemen in der Volkswirtschaft erhofft.
Die angekündigten neuen sozialpolitischen Maßnahmen haben vor allem unter Jugendlichen und Jungerwachsenen große Resonanz und Zustimmung gefunden.6
Hinweisen aus nahezu allen Bezirken der DDR zufolge äußern jedoch Bürger älterer Jahrgänge sowie Rentner teilweise Unverständnis gegenüber diesen Maßnahmen.
Sie glauben einen Widerspruch zu erkennen zwischen der einerseits fortgesetzten und »bevorzugten« Förderung der Jugend und der angeblich nicht genügenden Würdigung ihres jahrzehntelangen Engagements beim Aufbau des Sozialismus.
In diesem Zusammenhang wird vereinzelt nach dem Sinn der Feststellung im Bericht des ZK der SED gefragt, dass auch die ältere Generation nicht vergessen werde, wenn dazu keine konkreteren Aussagen erfolgten.
Leitende Kader aus Betrieben und staatlichen Einrichtungen mit einem großen Anteil weiblicher Beschäftigter befürchten, dass besonders durch die Einführung des bezahlten Babyjahres bereits nach der Geburt des ersten Kindes eine zunehmende Zahl von Arbeitskräften ausfalle und damit die Realisierung der anspruchsvollen Planziele in solchen Bereichen ernsthaft gefährdet werden könnte. Außerdem würden über längere Zeiträume hinweg Planstellen blockiert.
Ältere Werktätige rechnen im Hinblick auf zu erwartende Mehrausfälle durch Kolleginnen in ihrem Arbeitsbereich mit neuen, zusätzlichen Belastungen.
Kritik wird u. a. von Werktätigen aus Betrieben, von Verwaltungsangestellten, Mitarbeitern staatlicher Organe und Volksbildungseinrichtungen an der ihrer Meinung nach formalen und administrativen Vorgehensweise im Zusammenhang mit der täglichen Erarbeitung von Stimmungsberichten durch Grundorganisationen der SED sowie durch Funktionäre der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Organisationen geübt. Teilweise seien Stellungnahmen zum Bericht des XI. Parteitages noch in Unkenntnis dessen Inhalts gefordert worden.
(Am 15. April 1986 habe der Zentralrat der FDJ kurzfristig die FDJ-Bezirksleitung Berlin beauftragt, zu sichern, dass jeder Teilnehmer der FDJ-Bezirksdelegation an der Manifestation der Jugend eine schriftlich vorbereitete Stellungnahme, verbunden mit einer persönlichen Verpflichtung, abgibt.
Diese Aufgabenstellung hat bei Mitarbeitern der FDJ-Bezirksleitung kritische Meinungsäußerungen ausgelöst und wurde als unrealistisch eingeschätzt. Angesichts fehlender Orientierungen seitens des Zentralrates der FDJ sehen sich oben genannte Funktionäre außerstande, ihren Kreisleitungen dazu entsprechende Unterstützung zu geben.)