Reaktionen auf den XI. SED-Parteitag (2)
20. April 1986
Weitere Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR zum Inhalt und Verlauf des XI. Parteitages der SED [O/161b]
Im Mittelpunkt vielfältigster Diskussionen breitester Kreise der Bevölkerung der DDR stehender Bericht des ZK der SED an den XI. Parteitag1 und die Ansprache des Generalsekretärs des ZK der KPdSU,2 Genossen Gorbatschow.3
Der Parteitag wird mehrheitlich als herausragendes politisches Ereignis und als eindrucksvoller Beweis der Einheit und Geschlossenheit der SED bewertet.
Der Bericht des Zentralkomitees an den XI. Parteitag findet weitgehend Zustimmung und wird als fundierte Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR charakterisiert. Die darin vorgenommene Einschätzung der internationalen Lage und der außenpolitischen Tätigkeit der SED dokumentiere die feste Verbundenheit der DDR mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Bruderländern im Kampf um die Erhaltung und Festigung des Friedens. Der Beitrag der DDR im Rahmen der abgestimmten Friedenspolitik der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft wird als bedeutende außenpolitische Leistung eingeschätzt, wobei wiederholt der hohe persönliche Anteil des Genossen Honecker4 hervorgehoben wurde. Die im Bericht des ZK der SED und in der Ansprache des Genossen Gorbatschow deutlich gewordene Haltung zur USA-Aggression in Libyen5 zeuge von Besonnenheit und kluger, kalkulierbarer Staatspolitik.
Genugtuung wurde darüber geäußert, dass die SED auch weiterhin am bewährten außenpolitischen Kurs festhalten wird und in allen diesbezüglichen Aufgabenstellungen volle Übereinstimmung mit den Zielen der KPdSU und der anderen Bruderparteien besteht.
In zahlreichen Meinungsäußerungen wird hingewiesen auf
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die Kontinuität des außen- und innenpolitischen Kurses der SED,
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die Notwendigkeit der weiteren Festigung und Vertiefung des Bruderbundes mit der KPdSU und den anderen sozialistischen Bruderländern sowie der Einheit und Geschlossenheit der Staaten des Warschauer Vertrages,6
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das Erfordernis einer überzeugenderen Entlarvung der aggressiven Politik des USA-Imperialismus und seiner Verbündeten, insbesondere der BRD.
Häufig wird dies verknüpft mit der Bereitschaft, durch größere ökonomische Leistungen einen konkreten persönlichen Beitrag zur Unterstützung der Friedenspolitik der SED leisten zu wollen.
Die Diskussionen zum außenpolitischen Teil des Berichtes des ZK der SED erfolgen in der Regel mit unmittelbarer Bezugnahme auf die Ansprache des Generalsekretärs des ZK der KPdSU.
Sein Auftreten auf dem XI. Parteitag der SED wird als Anerkennung der von der DDR betriebenen Politik gewertet sowie als Beweis der brüderlichen Verbundenheit zwischen der KPdSU und der SED betrachtet.
Dem Inhalt seiner Grußansprache wird nahezu uneingeschränkt zugestimmt. Seine überzeugenden Ausführungen über den aggressiven Kurs des USA-Imperialismus hätten den Ernst der Lage verdeutlicht. Besonders progressive Kräfte zeigten sich befriedigt über die Entlarvung der Friedensdemagogie führender Politiker der BRD. Besonders gewürdigt werden die von ihm unterbreiteten Abrüstungsvorschläge.7
Vor allem progressive Bürger brachten in Meinungsäußerungen zum Ausdruck:
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Die unterbreiteten Vorschläge seien unmissverständliche Zeichen wahrer Friedenspolitik.
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Die von Genossen Gorbatschow unterbreiteten Vorschläge zeugten vom Verantwortungsbewusstsein und von großer Risikobereitschaft. Sie gingen bis an die Grenzen der Gewährleistung der Sicherheit der sozialistischen Staaten.
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Die erneute Friedensinitiative werde bei vielen friedliebenden Menschen Optimismus, Ruhe und Zuversicht auslösen; dennoch müsse man die Haltung des Westens zu diesen Vorschlägen illusionslos betrachten.
Großen Anklang fand in diesem Zusammenhang seine Feststellung, dass die UdSSR zur Überwindung bestehender Konflikte dem Westen nicht »die geballte Faust, sondern die offene Hand« entgegenhalte.
Auch zahlreiche kirchliche Amtsträger und religiös gebundene Bürger begrüßen diese Vorschläge. In individuellen Gesprächen brachten sie zum Ausdruck, dass sie sich mit dieser Politik der Sowjetunion identifizieren, da sie mit ihrer christlichen Überzeugung übereinstimme, immer den ersten Schritt zu gehen und den Anfang zu machen.
Große Resonanz unter breiten Bevölkerungskreisen fanden auch die Ausführungen des Genossen Gorbatschow über die vom XXVII. Parteitag der KPdSU8 beschlossenen Reformprogramme zur Erreichung einer qualitativ höheren Stufe der sowjetischen Gesellschaft. Sie hätten die Verantwortung aller RGW-Länder deutlich gemacht, insbesondere auf dem Gebiet der Ökonomie noch enger zusammenzuarbeiten und vorhandene Reserven umfassender zu erschließen. Vereinzelt wurden seine Bemerkungen über die Richtigkeit des kritischen Herangehens bei der Einschätzung des erreichten Entwicklungsstandes auf dem XXVII. Parteitag als »versteckte Kritik« am »problemlosen« Bericht des ZK der SED gewertet.
In den Stellungnahmen zum innenpolitischen Teil des Berichtes des ZK der SED dominieren der Stolz auf die gewachsene Wirtschaftskraft und auf das in diesem Zusammenhang erreichte hohe internationale Ansehen der DDR.
Besondere Anerkennung findet die Tatsache, dass es trotz hoher außenwirtschaftlicher Belastungen und Aufwendungen für die Landesverteidigung gelungen ist, das Lebensniveau der Bevölkerung weiter anzuheben. Die im Bericht enthaltene Einschätzung des erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstandes wird überwiegend als sachlich und realistisch eingeschätzt.
Dennoch wird von zahlreichen Mitarbeitern staatlicher und wirtschaftsleitender Organe, Leitungskadern aus Betrieben und Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz betont, dass durch die Art und Weise der Darstellung des Erreichten der Eindruck entstehe, die Entwicklung besonders auf dem Gebiet der Volkswirtschaft vollziehe sich problem- und konfliktlos.
Wiederholt argumentierten vorgenannte Personenkreise, ihre mit dem XI. Parteitag verbundenen Erwartungshaltungen hinsichtlich der Herausarbeitung von Ursachen subjektiv bedingter Mängel und Schwächen, des kritischen Ansprechens vor allem solcher Erscheinungen wie Planmanipulationen, Schönfärberei, administrative Arbeitsweisen staatlicher und wirtschaftsleitender Organe, Verletzungen der Arbeitsdisziplin und Ähnliches seien nicht erfüllt worden.
Charakteristisch hierfür sind folgende Argumente:
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Die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR vollziehe sich nicht so reibungslos wie im Bericht dargestellt.
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Bestehende Unzulänglichkeiten seien nur aus im Bericht enthaltenen Aufgabenstellungen herauszulesen.
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Möglicherweise seien der Partei- und Staatsführung die tatsächlich vorhandenen Probleme in der Volkswirtschaft nicht bekannt oder würden unterschätzt.
Breite Zustimmung findet die Orientierung, dass der bewährte Kurs der Hauptaufgabe in seiner Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik auch in den kommenden Jahren konsequent fortgesetzt wird.9
Die dafür abgesteckten Ziele und Aufgaben werden als sehr anspruchsvoll, aber realisierbar eingeschätzt.
Besonders die zehn Schwerpunkte der ökonomischen Strategie bis zum Jahr 2000 seien das Hauptkampffeld im Interesse der kontinuierlichen Weiterführung dieses Kurses, erklärten Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz. Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften verweisen in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der umfassenden Durchsetzung der Schlüsseltechnologien in allen Bereichen und Zweigen der Volkswirtschaft, auf das Erreichen ihrer vollen Wirksamkeit. Bereits im Vorfeld des XI. Parteitages seien wichtige Voraussetzungen geschaffen worden, um Anschluss an Haupttrends in der weltweiten technologischen Entwicklung zu erhalten. Die Orientierung der Partei, eine umfassende Qualifizierung auf dem Gebiet der Spitzentechnologien im Prozess der Arbeit zu organisieren, sei der richtige Weg. Dies bedeute jedoch, dass die Kombinate dafür die grundsätzlichen Voraussetzungen schaffen müssten.
Werktätige aus dem Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, insbesondere ingenieurtechnische Kader, begrüßten die Aufgabenstellungen auf dem Gebiet der Mikroelektronik. Es bedürfe ihrer Meinung nach jedoch größerer materieller Stimuli, um die Werktätigen dieses Bereiches für höhere Leistungen zu motivieren.
Kritisch äußerten sich auch Mitarbeiter des Verkehrs- und Nachrichtenwesens zu der ihrer Auffassung nach »einseitigen« Orientierung auf technologische Spitzenleistungen in produzierenden Bereichen. Damit rangiere vor allem das Verkehrs- und Nachrichtenwesen wieder »weit hinten«.
Breitesten Raum nehmen in den Diskussionen die angekündigten neuen sozialpolitischen Maßnahmen ein.10
Diesbezügliche Meinungsäußerungen sind sehr differenziert. Sie reichen von eindeutiger Zustimmung, Vorbehalten bis hin zu Enttäuschung und in Einzelfällen zu Ablehnung.
Vor allem von Jugendlichen und Jungerwachsenen wurden diese Maßnahmen mit großer Freude aufgenommen, verschiedentlich verbunden mit dem Hinweis, überrascht gewesen zu sein. Sie seien Ausdruck der großen Fürsorge des Staates für die Jugend und gewährleisteten eine gesicherte Zukunft. Wiederholt wurden in diesem Zusammenhang Vergleiche mit der sozialen Unsicherheit in der BRD angestellt und die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaft betont.
Auch Bürger älterer Jahrgänge sprechen sich im Wesentlichen für diese Maßnahmen aus, bringen jedoch häufig Unverständnis über die ihrer Meinung nach »unausgewogenen Relationen« zuungunsten der älteren Bürger zum Ausdruck.
Teilweise wird in diesem Zusammenhang Enttäuschung geäußert, dass ihre mit dem XI. Parteitag verbundenen Erwartungshaltungen, insbesondere nach Herabsetzung des Rentenalters, der Erhöhung der Renten und der Verkürzung der Arbeitszeit nicht erfüllt wurden. Man habe zwar keine Wunder erwartet, aber dass für ältere Bürger nichts »Messbares« übriggeblieben sei, wäre deprimierend.
Charakteristisch für derartige Haltungen sind nach vorliegenden Informationen aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR folgende Argumente:
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Die Veteranen der Arbeit, die die Grundlagen für den erreichten Lebensstandard schufen, seien wiederum nicht berücksichtigt worden.
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Die »Alten« können nicht immer nur für den Wohlstand im Lande arbeiten, ohne angemessenen Anteil an den »Früchten der Arbeit« zu haben.
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Der Jugend würden alle Möglichkeiten erschlossen, während die älteren Bürger von der Partei »offensichtlich schon abgeschrieben« seien.
Mehrfach wurde in Meinungsäußerungen bezweifelt, ob die neuen sozialpolitischen Maßnahmen auch wirklich dazu beitragen, die Jugend zu höheren Leistungen zu stimulieren. Unter Bezugnahme auf »gemachte Erfahrungen« im eigenen Tätigkeitsbereich wird behauptet:
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Die Jugend wisse solche Maßnahmen nicht richtig zu schätzen. Für sie sei vieles schon zur Selbstverständlichkeit geworden.
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Viele Jugendliche/Jungerwachsene nutzten nur die Vorteile aus, seien aber nicht bereit, größere Leistungen in der Produktion zu erbringen.
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Durch die »einseitig« auf die jüngeren Menschen abzielenden sozialpolitischen Maßnahmen könnten »Generationsspannungen« erzeugt werden, die das Arbeitsklima in den Kollektiven negativ beeinflussten.
Teilweise wird die Erhöhung des Ehekredits11 und des Kindergeldes als ein gewisser Ausgleich für »erhebliche« Mehrausgaben, insbesondere durch höhere Preise für Kinderbekleidung, Möbel und andere hochwertige Konsumgüter angesehen.
Leitungskader in Betrieben und staatlichen Einrichtungen, vor allem in den Bereichen Volksbildung und Gesundheitswesen, mit einem hohen Anteil weiblicher Beschäftigter sehen sich vor »unlösbare Probleme« gestellt, vor allem im Zusammenhang mit der Einführung des Babyjahres bereits nach der Geburt des ersten Kindes.
So wird beispielsweise im Bereich der materiellen Produktion auf Probleme bei der Gewährleistung des durchgängigen Schichtsystems aufmerksam gemacht, da sich die Arbeitskräftesituation noch mehr verschärfe. Mitarbeiter des Gesundheitswesens verweisen auf die bereits bestehenden Probleme bei der personellen Sicherstellung und werfen die Frage auf, wie mit noch weniger zur Verfügung stehenden Kadern das vom XI. Parteitag geforderte höhere Niveau der medizinischen Betreuung gesichert werden solle.
Darüber hinaus wird darauf verwiesen, die bezahlte Freistellung könne auch zu einer Verminderung der Qualifikation führen, weil ein längeres Ausscheiden aus dem Arbeits- bzw. Studienprozess die Kontinuität der Aus- und Weiterbildung erheblich behindere.
Ältere Werktätige verschiedenster gesellschaftlicher Bereiche befürchten im Hinblick auf die ihrer Meinung nach zu erwartende hohe Anzahl von Freistellungen im eigenen Tätigkeitsbereich noch größere persönliche Belastungen, die auch zu eigenen Überforderungen führen könnten.
Außerdem äußerten sie die Befürchtung, dass die Erweiterung der Regelung über die bezahlte Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder missbraucht werden und in extremen Fällen asozialem Verhalten12 Vorschub leisten könnte. In diesem Zusammenhang werden strengere Maßstäbe bei der Entscheidung von Ärzten über die Krankschreibung von Kindern erwartet bzw. gefordert.