Reaktionen auf Flugzeugabsturz nahe Schönefeld (2)
19. Dezember 1986
Weitere Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf den Absturz eines Passagierflugzeuges der Fluggesellschaft Aeroflot bei Berlin-Schönefeld am 12. Dezember 1986 [O/170b]
Nach vorliegenden Hinweisen werden auch weiterhin die Veröffentlichungen im Zusammenhang mit dem Flugzeugunglück mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.1 Es überwiegen sachliche, von Mitgefühl gegenüber den Betroffenen gekennzeichnete Meinungsäußerungen.
In der Mehrheit der bekannt gewordenen Diskussionen wurde die Veröffentlichung der Ursache der Flugzeugkatastrophe positiv aufgenommen und bewertet.2 Es wird hervorgehoben, dass es gut sei, die Schuldfrage schnell und eindeutig geklärt zu haben.
Menschliches Versagen sei zwar bedauerlich, könne aber nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden.
Besondere Beachtung findet die Feststellung der Untersuchungskommission, wonach sich die TU 134 in einem technisch einwandfreien Zustand befand und ihre Besatzung über die erforderliche Qualifikation verfügte.
Unter Bezugnahme auf die umfangreiche und präzise Berichterstattung der Massenmedien der DDR unmittelbar nach dem Unglück wird die Mitteilung über die Ursache des Flugzeugabsturzes von zahlreichen Werktätigen, darunter auch von Angehörigen der NVA, der Grenztruppen der DDR und Zivilbeschäftigten, als zu kurz empfunden. Das Fehlen detaillierterer Angaben lasse, so wird argumentiert, gewisse Zweifel an der im veröffentlichten Bericht dargestellten Ursache der Katastrophe aufkommen.
Die Feststellung, der Flugzeugführer habe die Regeln des Landeanfluges verletzt, sei für einen Sachunkundigen nicht überzeugend und lasse deshalb Raum für vielfältige Spekulationen.
In diesem Zusammenhang werden u. a. solche Fragen aufgeworfen wie:
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Welche konkreten Regeln des Landeanfluges wurden verletzt?
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Welche Fehlverhaltensweisen wurden festgestellt?
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Warum reagierte der Copilot nicht?
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Welche Reaktionen gab es von der Flugsicherung auf die Fehlverhaltensweisen des Flugzeugführers beim Landeanflug?
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Warum hatte die TU 134 eine unverhältnismäßig hohe Anzahl von Besatzungsmitgliedern an Bord? War etwas nicht in Ordnung? Musste etwas überwacht werden?
Derartige Fragesteller verweisen darauf, dass bei einer stabilen Funkverbindung zwischen Flugzeug und Flugsicherung eine exakte Einweisung des Piloten zum Anfliegen der Landebahn erfolgt und deshalb ein Verfehlen nicht möglich sein dürfte. Es sei daher unerklärlich, wie bei insgesamt guten äußeren Bedingungen der Flugzeugführer in einer alltäglichen Situation versagt haben soll. Das alles lasse, so wurde weiter argumentiert, viele Fragen im Verhältnis zu den erfolgten Veröffentlichungen bezüglich der Unglücksursache offen.
In Einzelfällen wird der Wahrheitsgehalt des Berichtes der Regierungskommission in seiner Gesamtheit angezweifelt.
Das widerspiegelt sich in solchen Behauptungen,
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man brauchte einen Schuldigen, um die Bevölkerung zu beruhigen;
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dem Flugzeugführer könne die Schuld angelastet werden, denn er lebt nicht mehr;
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die tatsächliche Ursache sei ein technischer Defekt, der vertuscht werden solle, um keine Zweifel an der Zuverlässigkeit sowjetischer Flugzeugtechnik aufkommen zu lassen.
Wiederholt wurden derartige Behauptungen von dem gleichen Personenkreis zum Anlass für die Verbreitung nachfolgend genannter Gerüchte genommen:
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Die TU 134 sei bereits mehrere Stunden später als geplant von Minsk/UdSSR abgeflogen, was auf technische Mängel hinweise. Sie sei in Prag zwischengelandet und technisch überprüft worden.
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Da der Flugschreiber und das Kabinentonband zur schnellen Auswertung zur Verfügung standen, in den Massenmedien aber nicht unverzüglich zur Unglücksursache Stellung genommen wurde, müsse es Unstimmigkeiten zwischen der DDR-Regierungskommission und den sowjetischen Experten gegeben haben.
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Der Flugzeugführer habe unter Alkoholeinfluss gestanden, was zu der dem Absturz vorausgegangenen Fehlleistung beim Landeanflug geführt haben könne.
Hinweisen aus den Bezirken Magdeburg und Schwerin zufolge versuchen einzelne Personen zwischen dem Flugzeugunglück bei Berlin-Schönefeld, den Unglücksfällen in der UdSSR im Jahre 1986 und von Angehörigen der GSSD verursachten schweren Verkehrsunfällen sowie begangenen Gesetzesverletzungen in der DDR Zusammenhänge zu konstruieren und daraus abzuleiten, dass es in der UdSSR an einem straffen Regime zur Durchsetzung von Ordnung und Disziplin mangele.
Die Bekanntgabe der Ursachen des Flugzeugunglücks veranlasste u. a. Personen aus den Bezirken Leipzig, Magdeburg und Schwerin sowie einzelne Armeeangehörige, darunter Offiziere, zu der Absichtsbekundung, von ihren für das Jahr 1987 gebuchten Flugreisen in die UdSSR zurücktreten bzw. künftig bei Flugreisen keine Buchungen für Aeroflot-Maschinen vornehmen zu wollen.
Die am 18. Dezember 1986 durchgeführten Trauerfeiern in Schwerin, Karl-Marx-Stadt,3 Dresden und verschiedenen Orten des Bezirkes Frankfurt/Oder verliefen in der vorgesehenen Art und Weise und in würdiger Form ohne Vorkommnisse.
Am 16. Dezember 1986 erhielt die Ernst-Schneller-Oberschule Schwerin einen Brief vom Landessuperintendenten der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, de Boor.4 Darin wird mitgeteilt, dass die Pastoren der Petrusgemeinde (Schwerin, Großer Dreesch) bereits am vergangenen Wochenende Andachten und Gebete für die Verunglückten durchgeführt haben und dass sie weitere Maßnahmen zur Unterstützung der vom Flugzeugunglück betroffenen Familien einleiten wollen. Dieser Brief ist von der Direktorin der Schule an den Oberbürgermeister der Stadt Schwerin weitergeleitet worden, ohne darauf zu reagieren.