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Reaktionen auf Gorbatschows Erklärung v. 15.1.1986

22. Januar 1986
Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Erklärung des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow, vom 15. Januar 1986 [O/155]

Nach vorliegenden Informationen findet die Veröffentlichung der umfassenden Vorschläge der UdSSR zur Befreiung der Welt von Atomwaffen unter allen Bevölkerungskreisen große Beachtung und Aufmerksamkeit.1

Die überwiegende Mehrheit stimmt der neuen Friedensinitiative der UdSSR voll inhaltlich zu. Sie wird als erneuter Beweis des uneingeschränkten Willens der Sowjetunion angesehen, den Weltfrieden zu erhalten und dem Wettrüsten ein Ende zu setzen. Kerngedanke der Reaktionen ist, die Vorschläge stellten das bisher umfassendste und weitreichendste Programm zur Verhinderung eines nuklearen Infernos dar.

Unter häufiger Bezugnahme auf das konstruktive Auftreten des Genossen Gorbatschow2 auf dem Gipfeltreffen in Genf3 sowie auf das beharrliche Ringen der sowjetischen Partei- und Staatsführung um die Erzielung von Fortschritten auf dem Gebiet der Abrüstung wird betont, die UdSSR demonstriere erneut mit aller Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ihren auf die vollständige Beseitigung der Kernwaffen in der ganzen Welt abzielenden Kurs.

Mit diesem neuen Dokument, so wird weiter argumentiert, sei bereits das Friedensprogramm des XXVII. Parteitages der KPdSU4 der Weltöffentlichkeit vorgelegt worden.

Hervorgehoben wird auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung. Er sei so gewählt, den Fortgang der gegenwärtig neuen bzw. weiterer Verhandlungsrunden in Genf positiv zu beeinflussen.

Es wird die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass mit dem erneuten Vorstoß der Sowjetunion die internationale Friedensbewegung neuen Auftrieb erhält und so der Imperialismus unter dem Druck der Weltöffentlichkeit zu Abrüstungsmaßnahmen gezwungen wird. Von den NATO-Staaten wird erwartet, endlich davon abzugehen, nur über den Frieden zu reden; stattdessen sollten entsprechende Taten folgen.

Charakteristisch für die Haltung zu der neuen Friedensinitiative der UdSSR sind vor allem solche Meinungsäußerungen von Werktätigen aus Schwerpunktbetrieben der Volkswirtschaft, Mitarbeitern des Staatsapparates, Angehörigen der bewaffneten Organe und weiteren progressiven Personen wie

  • die Vorschläge der Sowjetunion überträfen ihrem Inhalt nach allen bisherigen Initiativen,

  • die Konkretheit der Vorschläge und die in allen Ländern zunehmenden Forderungen nach Rüstungsabbau zwängen die USA an den Verhandlungstisch,

  • die UdSSR zeige erneut, wer sich ernsthaft um die Erhaltung und Festigung des Friedens bemühe,

  • mit dem Programm sei ein Meilenstein auf dem Weg zur vollständigen Beseitigung der nuklearen Kriegsgefahr gesetzt worden,

  • mit diesem Dokument habe man eine wertvolle Unterstützung der politisch-ideologischen Arbeit erhalten,

  • die USA-Administration sei durch die Vorschläge in politischen Zugzwang geraten.

Verantwortliche Mitarbeiter im Bereich der Akademie der Wissenschaften werten die Erklärung des Genossen Gorbatschow als außerordentlich wichtig. Sie habe bei aller Kompromissbereitschaft zugleich die Stärke des sozialistischen Systems verdeutlicht und zeige, dass die Friedenspolitik des Sozialismus, der Kampf um Abrüstung und die Verhinderung eines Sternenkrieges5 auch künftig gepaart bleiben müsse mit der Stärkung der Landesverteidigung.

Äußerungen namhafter Wissenschaftler zufolge seien solche weitgehenden Vorschläge bisher von keinem Politiker ausgesprochen worden. Ihrer Meinung nach sei das von der UdSSR angestrebte Ziel, alle Kernwaffen schrittweise zu beseitigen, für die Entwicklung der Menschheit von fundamentaler Bedeutung. Die USA müssten zeigen, ob sie die von Reagan6 in Genf gegenüber Genossen Gorbatschow abgegebenen Versicherungen ernst meinen und ihrem gefährlichen Kurs der Hochrüstung ein Ende setzen. Die Vorschläge der Sowjetunion seien ihrer Meinung nach so zwingend, dass es den USA und ihren Verbündeten schwerfallen werde, ernsthafte Gegenargumente vorzubringen.

In weiteren Meinungsäußerungen, vor allem von politisch bewussten Bürgern, wurde aber auch besorgt gefragt, ob die UdSSR nicht zu viel Zugeständnisse mache, die zu einer Verminderung der Verteidigungsfähigkeit der sozialistischen Staaten führen könnten. Mit diesem Friedensprogramm, so wird betont, sei sie bis an die Grenze des Möglichen gegangen. Insbesondere aufgrund der Verlängerung des einseitigen Moratoriums zu Nukleartests könne die Sowjetunion in einen technologischen Rückstand geraten und ihre militärische Schlagkraft einbüßen.

Unterschiedliche Auffassungen gibt es hinsichtlich der zu erwartenden Haltung der USA-Regierung zu den sowjetischen Vorschlägen.

Wiederholt wird darauf verwiesen, die Reagan-Administration sei jetzt gezwungen, eindeutige Positionen zu beziehen. Es wird argumentiert, mit einer globalen Ablehnung des Friedensprogramms würden sich die USA gegen die Meinung der Weltöffentlichkeit stellen. Die von Reagan angekündigte »sorgfältige Prüfung« der Vorschläge wird u. a. als Indiz dafür gewertet, dass selbst die USA nicht mehr imstande seien, die Initiativen der UdSSR zu ignorieren bzw. sie als Propaganda abzuwerten.

Überwiegend werden jedoch Zweifel und Skepsis hinsichtlich der Bereitschaft der USA-Regierung geäußert, auf die Vorschläge positiv zu reagieren.

In diesem Zusammenhang wurde auf die jüngsten Maßnahmen der amerikanischen Seite zur Stationierung weiterer Raketen in Westeuropa sowie auf erneute Kernwaffentests verwiesen. Die wiederholten Erklärungen Reagans, am SDI-Programm festzuhalten, und die Invasionsdrohungen gegen Libyen7 zeigten, dass die USA nach wie vor die Politik der Stärke demonstrierten und eine militärische Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion anstrebten.

Vielfach wird daraus von unterschiedlichsten Personenkreisen die Befürchtung abgeleitet, die USA-Regierung sei nicht an einer Abrüstung interessiert und werde die sowjetischen Vorschläge ablehnen. (Teilweise wird, von einer pessimistischen Grundhaltung ausgehend, die Realisierung von Abrüstungsschritten auch auf lange Sicht angezweifelt.)

So äußerten Personen aus verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, darunter des Gesundheitswesens und der Volksbildung,

  • die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden Weltsystemen sei trotz aller bisherigen Initiativen der sozialistischen Staaten nicht geringer geworden,

  • die USA würden wiederum versuchen, die Weltöffentlichkeit mit leeren Versprechungen hinzuhalten,

  • solange die Bevölkerung der USA nicht selbst in massierter Form Forderungen an ihre Regierung stelle, könnten auch die konstruktiven Vorschläge der UdSSR kaum einen durchgreifenden Erfolg erzielen.

Darüber hinaus befürchteten Arbeiter und Genossenschaftsbauern, dass

  • die USA analog ihrer Reaktionen auf vorangegangene Friedensinitiativen auch jetzt nicht ihr Rüstungsprogramm änderten,

  • alle konkreten Schritte der UdSSR erneut durch die Reagan-Administration blockiert würden,

  • die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes nicht auf ihre durch Hochrüstung gesicherten Profite verzichteten.

Weiteren Einzelmeinungen zufolge sei die Liquidierung aller Atomwaffen eine Illusion, da dies bedeute, dass sich der Imperialismus seinem Wesen nach ändern müsste. Die USA wären daher auch nach dem Genfer Gipfel zu keinen ernsthaften Abrüstungsmaßnahmen zu bewegen. Des Weiteren entscheide sich mit der Durchsetzung des SDI-Projektes auch Reagans Präsidentschaftswahl, die er nicht verlieren wolle.

In diesem Zusammenhang in geringem Umfang bekannt gewordene abwertende Äußerungen zu den Friedensinitiativen der UdSSR beinhalten, alle diesbezüglichen Vorschläge seien nutzlos; die »Großen« machten doch, was sie wollen.

Maßgeblich durch westliche elektronische Medien beeinflusste und unter politisch-operativer Kontrolle stehende Personen versuchen in Einzelfällen, die Vorschläge der Sowjetunion herabzuwürdigen bzw. zu diskreditieren. Das widerspiegelt sich in solchen »Argumenten« wie:

  • Bei den Vorschlägen der UdSSR handele es sich um Scheinmanöver; sie seien nicht realisierbar, da die westlichen Staaten keine reale Kontrolle über den jeweiligen Abrüstungsstand ausüben könnten.

  • Die Initiativen der Sowjetunion seien Ausdruck dafür, dass die UdSSR ihre ökonomische Grenze beim »Wettrüsten« erreicht habe.

  • Wirtschaftliche Schwierigkeiten der UdSSR seien der wichtigste Grund für die Erklärung des Genossen Gorbatschow.

  • Beide »Supermächte« versuchten, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben.

  • Die »Russen« wüssten ganz genau, dass die Amerikaner nicht auf derartige Vorschläge eingingen.

  • Es sei niemals mit einer Einigung zu strittigen Fragen der Rüstungsreduzierung zu rechnen.

  1. Zum nächsten Dokument Konferenz der Ev. Kirchenleitungen der DDR (1)

    24. Januar 1986
    Information Nr. 40/86 über die 102. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (KKL) am 10. und 11. Januar 1986 in der Hauptstadt der DDR, Berlin

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    22. Januar 1986
    Information Nr. 39/86 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 13. Januar 1986 bis 19. Januar 1986