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Reaktionen auf Handels- und Versorgungsprobleme

17. November 1986
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Problemen des Handels und der Versorgung [O/168]

Nach vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR ist erneut eine erhebliche Zunahme von kritischen Diskussionen breitester Bevölkerungskreise zu Problemen des Handels und der Versorgung festzustellen. Sie rücken immer stärker in den Mittelpunkt und verdrängen teilweise Meinungsäußerungen zu bedeutsamen politischen Tagesfragen.

Bei den Meinungsäußerungen zu Problemen des Handels und der Versorgung sind solche Feststellungen beachtenswert, dass zahlreiche Werktätige unter Hinweis auf permanent auftretende Mängel in der qualitäts-, sortiments- und bedarfsgerechten Versorgung mit Textilwaren und gefragten hochwertigen Konsumgütern sowie Ersatzteilen zunehmend die Realisierbarkeit der auf diesem Gebiet durch zentrale Partei- und Staatsorgane gefassten Beschlüsse und getroffenen Festlegungen anzweifeln.

Genährt werden derartige Diskussionen auch durch solche Bürger, die in Arbeitskollektiven sowie im Freizeitbereich nach Rückkehr von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten in das nichtsozialistische Ausland. Vergleiche zwischen den Lebensbedingungen in der DDR und in der BRD anstellen, wobei einerseits die soziale Geborgenheit der DDR-Bürger hervorgehoben wird, andererseits jedoch in zum Teil überschwänglicher Form Darstellungen zum umfangreichen Warenangebot in der BRD erfolgen.

(Derartige Hinweise liegen insbesondere aus den Bezirken Magdeburg, Rostock und Neubrandenburg vor.)

Den Handelsorganen wird wiederholt Unvermögen vorgeworfen, sich auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung entsprechend einzustellen. Fortgesetzt werden Auffassungen vertreten, die in allen Bereichen der Volkswirtschaft erzielten und ständig in den Massenmedien propagierten Ergebnisse stünden im Widerspruch zu dem tatsächlichen Warenangebot für die Bevölkerung.

In zahlreichen Meinungsäußerungen widerspiegelt sich das in solchen Argumenten wie:

  • Die Handelspolitik entspreche nicht den Beschlüssen von Partei und Regierung. Die Versorgung der Bevölkerung sei vor Jahren schon besser als jetzt gewesen.

  • Es wäre nicht zu verstehen, warum sich die breit publizierten Erfolge auf ökonomischem Gebiet nicht spürbar auf die Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung auswirkten.

  • Die Massenmedien der DDR berichteten zwar ständig über hohe Steigerungsraten der Produktion im Ergebnis der Erhöhung der Arbeitsproduktivität; dies werde jedoch für den Einzelnen nicht sichtbar.

  • Immer wiederkehrende Lücken im Angebot ließen Zweifel an der stabilen und dynamischen Leistungsentwicklung der Volkswirtschaft der DDR aufkommen.

  • In der DDR zeichne sich eine inflationäre Entwicklung ab, die durch eine erfolgsorientierte Berichterstattung der Massenmedien verschleiert würde.

Einzelnen Meinungsäußerungen zufolge dürfe man sich bei der Beurteilung und Darstellung der Lage auf dem Gebiet des Handels und der Versorgung nicht so sehr von Wunschvorstellungen leiten lassen, sondern man müsse mehr von den realen Gegebenheiten ausgehen.

So bringen u. a. Angestellte aus dem Bereich Handel und Versorgung zum Ausdruck, der Prozess der Versorgung werde in der Einheit von Bilanz, Plan und Vertrag nur in unzureichendem Maße beherrscht. Das führe zur überwiegend operativen Arbeit der Leitungskader dieses Bereiches ohne klar erkennbare Versorgungskonzeptionen.

Verstärkt wird darauf hingewiesen, dass durch die ungenügende Bereitstellung vor allem von Ersatzteilen und ausgewählten Industriewaren auch die Verkaufskultur in Handelseinrichtungen und in Bereichen der Dienstleistungen leide. Das äußere sich sowohl in unlauteren Verkaufspraktiken (Verkäufe »unter dem Ladentisch« und Bestechung des Personals von Handels- und Dienstleistungseinrichtungen) als auch im unfreundlichen Verhalten der Handelsmitarbeiter gegenüber Kunden.

Meinungsäußerungen zu Problemen des Handels und der Versorgung sind oftmals gekoppelt mit Diskussionen bezüglich eines angeblich ungesunden Lohn-Preis-Gefüges, teilweise verbunden mit der Behauptung, beschlossene sozialpolitische Maßnahmen, so z. B. die Erhöhung der Ehekredite1 und des Kindergeldes, wären ausschließlich als Ausgleich für höhere Preise zu bewerten.

Weiterhin wird »argumentiert«:

  • Das Warenangebot in solchen Ländern wie der ČSSR und der Ungarischen VR hätte sich schneller entwickelt als in der DDR. Dort gäbe es weniger »Mangelware«.

  • Man sei darauf angewiesen, Überstunden zu leisten oder Nebeneinkünfte zu erlangen, um sich einen entsprechenden Lebensstandard zu sichern. (Andererseits kündigen Werktätige an, keine Überstunden und Sonderschichten mehr leisten zu wollen, da es für den zusätzlichen Verdienst »ohnehin nichts zu kaufen« gäbe.)

  • Aus dem gegenwärtigen Verhältnis von Lohn- und Preisentwicklung könne man auf eine Einschränkung der Kaufkraft der Bürger schließen.

In den Meinungsäußerungen wird vielfach Unverständnis geäußert über die bevorzugte Versorgung der Hauptstadt der DDR angeblich auf Kosten der Bevölkerung in den Kreisen und Landgemeinden der DDR. Häufig wird argumentiert, bei aller Anerkennung der Stellung Berlins als politisches, ökonomisches und geistig-kulturelles Zentrum dürfe es nicht dazu kommen, der Berliner Bevölkerung eine Sonderstellung einzuräumen. Dies käme einer Abwertung der Arbeitsleistungen der Werktätigen in der gesamten Republik gleich.

In der Mehrzahl bekannt gewordener Diskussionen wird die stabile Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln positiv hervorgehoben. Dennoch bemängeln insbesondere Bürger aus Kreisstädten und Gemeinden ein nicht über die gesamte Ladenöffnungszeit durchgängiges Angebot dieser Nahrungsmittel, willkürlich festgelegte Öffnungszeiten, diskontinuierliche Belieferungen sowie die dadurch entstehenden zeitweiligen Versorgungslücken aufgrund begrenzter Lagerkapazität.

Vielfach wird auch die Qualität der Fleisch- und Wurstwaren (Geschmack, Haltbarkeit) kritisiert. Deshalb, so wird weiter argumentiert, müsse man verstärkt Einkäufe in Delikat-Läden2 tätigen. Das sei jedoch, ausgehend vom finanziellen Einkommen, auf die Dauer nicht zu verkraften.

Analoge Diskussionen treten zu dem als nicht ausreichend charakterisierten Angebot an frischem Obst und Gemüse, vor allem an Südfrüchten, auf. Dieses sei vor Jahren schon besser gewesen. Darüber hinaus gibt es kritische Hinweise zum Frischegrad der angebotenen Waren sowie Unverständnis darüber, dass die Verkaufsstellen trotz Qualitätsminderung der Produkte an den bestehenden Preisen festhalten.

Im Mittelpunkt häufig abfälliger Meinungsäußerungen steht nach wie vor die Versorgung der Bevölkerung mit

  • modischer Damen- und Herrenoberbekleidung,

  • Kinderbekleidung,

  • Schuhwaren, insbesondere Kinderschuhen,

  • hochwertigen Konsumgütern wie Geräten der Heimelektronik, kleinen Farbfernsehgeräten, Waschvollautomaten, Gefrierschränken,

  • Ersatzteilen, vor allem bei Pkw, Fahrrädern und im Dienstleistungsbereich.

Kritische Hinweise zum Angebot an Textilwaren beziehen sich vorwiegend auf deren sortiments- und qualitätsgerechte Bereitstellung. So wird verbreitet argumentiert, die Textilindustrie der DDR reagiere sehr schwerfällig auf modische Trends. Das führe dazu, dass die in den Fachgeschäften vorhandenen Bestände nicht den gestiegenen Bedürfnissen der Bürger entsprächen und daher »Ladenhüter« blieben. Das angebotene Sortiment ließe hinsichtlich des Materialeinsatzes, der Formgestaltung und des modischen Chics zu wünschen übrig; preiswerte Artikel seien nicht im erforderlichen Umfang zu erwerben.

Modische, die Käufer ansprechende Bekleidung wäre nur noch in Exquisit-Läden3 zu entsprechend hohen Preisen erhältlich, aber selbst dort nicht durchgängig im Angebot.

Umfangreichen Meinungsäußerungen zufolge fehle es insbesondere in Vorbereitung auf die Wintersaison an einer stabilen Sortimentsbreite bei Kinderbekleidung. Genannt werden vorrangig Kinderanoraks, Thermo- und Cordhosen, Rodelanzüge und Schuhe.

Wiederholt wird darauf verwiesen, dass ein Großteil der im Handel erhältlichen Inlandproduktion von Kinderanoraks nicht den Kundenwünschen entspreche und wenig Absatz fände. Die auf regen Zuspruch stoßenden NSW-Importe seien dagegen hinsichtlich Material, Dessin und Farbgestaltung besser, aber nicht immer erhältlich.

Besonders werktätige Frauen verweisen auf den wachsenden Zeitaufwand beim Tätigen von Einkäufen, der nach ihrer Auffassung begründet liegt in den Versorgungslücken und daraus resultierenden Käuferschlangen beim Eintreffen sogenannter Mangelwaren.

Aus mehreren Bezirken der DDR, darunter Gera, Leipzig, Magdeburg und Rostock, liegen Erkenntnisse vor über eine erneute Zunahme von Einkäufen während der Arbeitszeit. Im Bezirk Gera werden Leitungskader in Betrieben mit einem hohen Anteil weiblicher Beschäftigter fortgesetzt mit entsprechenden Forderungen nach Freistellung für Einkäufe konfrontiert. Häufig wird derartigen Ansinnen stattgegeben.

Im Zusammenhang mit Diskussionen über das Angebot mit Kinderbekleidung treten stärker als bisher kritische Äußerungen über ständig steigende Preise bei derartigen Erzeugnissen auf. So wird zum Ausdruck gebracht,

  • die Preise zum Erwerb von Kinderbekleidung hätten allmählich ein unvertretbares Ausmaß angenommen,

  • die Erhöhung des Kindergeldes entspräche nicht den gestiegenen Preisen,

  • die Produzenten und der Handel hätten bei den Preisfestlegungen bereits das höhere Kindergeld mit einkalkuliert.

In Einzelfällen wurden z. B. aus den Bezirken Gera, Halle und Neubrandenburg Gerüchte bekannt, nach denen angeblich neben ab 1987 in Kraft tretenden Preiserhöhungen für verschiedene Industriewaren wie Textilien, Schuh- und Lederwaren die staatliche Stützung für Kinderbekleidung wegfalle.

Anhaltend diskutiert wird die Angebotspalette bei hochwertigen Konsumgütern. Sie sei zu gering und entspreche oftmals nicht den Käuferwünschen. Stattdessen würden einzelne neue Erzeugnisse mit dem Hinweis auf höhere Gebrauchseigenschaften grundsätzlich mit einem höheren Preis angeboten, obwohl der höhere Gebrauchswert vielfach nicht vorhanden sei. In Meinungsäußerungen wird zum Ausdruck gebracht, dass

  • verschiedene Bereiche der Konsumgüterindustrie zu unbeweglich seien,

  • attraktive DDR-Erzeugnisse ins Ausland gingen und für den DDR-Bürger nur der Rest übrigbleibe,

  • weiterentwickelte bzw. technisch hochwertige neue Konsumgüter zu teuer wären.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Verkauf neuer hochwertiger Konsumgüter wird von Bürgern, darunter Mitarbeiter von Serviceeinrichtungen und Dienstleistungsbetrieben, auf die sich durch vorhandene Qualitätsmängel noch weiter verschärfende Ersatzteilsituation verwiesen. Schwierigkeiten bei der Realisierung von Reparaturen für die Bevölkerung, z. B. bei Kälte- und Waschgeräten, elektrischen Haushaltsgeräten sowie im Bereich RFT würden aufgrund fehlender Ersatzteile weiter zunehmen. Das führe ständig zur Unzufriedenheit unter Kunden und Monteuren. Der generelle Ersatzteilmangel wirke sich aber auch, so wird weiter argumentiert, auf die Arbeitsmoral und Arbeitsfreude der Werktätigen insgesamt negativ aus.

An Intensität wesentlich zugenommen haben kritische Meinungsäußerungen zur unzureichenden Versorgung mit Fahrradersatzteilen.

Das trifft auch zu auf fehlende Ersatzteile für Pkw. In beiden Positionen seien hohe Lieferrückstände vorhanden. In diesem Zusammenhang häufen sich die Beschwerden auch über die sich weiter verlängernden Bestellzeiten für den Erwerb eines neuen Pkw. In den Diskussionen wird hervorgehoben:

  • Die DDR entwickele sich zu einer Mangelgesellschaft; die langen Wartezeiten für Pkw sind unerträglich.

  • Mit der Nichtherabsetzung der Bestellzeiten werde eine schlechte Politik gegenüber den Werktätigen betrieben.

  • Es sei unwürdig, fortgesetzt und häufig ohne Erfolg auf der Suche nach Ersatzteilen unterwegs zu sein oder unvertretbar lange Wartezeiten für Reparaturen an Pkw in Kauf nehmen zu müssen.

In Einzelfällen wurde argumentiert, dass die langen Wartezeiten dazu führten, selbst »schrottreife Pkw am Leben zu erhalten«. Dadurch würden die ohnehin nicht ausreichenden Werkstattkapazitäten übermäßig beansprucht und Ersatzteile in unvertretbar hohem Maße gebunden.

  1. Zum nächsten Dokument Mindestumtausch 10.11.–16.11.1986

    20. November 1986
    Information Nr. 525/86 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 10. November 1986 bis 16. November 1986

  2. Zum vorherigen Dokument DDR-Bürger unbefugt auf dem Gelände der französischen MVM

    13. November 1986
    Information Nr. 504/86 über den unbefugten Aufenthalt eines Bürgers der DDR auf dem Gelände des MVM-Stützpunktes der Französischen Republik am 11./12. November 1986