Reaktionen auf Honecker-Interview in »Die Zeit«
17. Februar 1986
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf das Interview des Genossen Erich Honecker für die BRD-Wochenzeitung »Die Zeit« [O/156]
Das Interview des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genosse Erich Honecker,1 für die BRD-Wochenzeitung »Die Zeit« zu Fragen der internationalen Lage, zur Innen- und Außenpolitik der DDR, hat unter breiten Teilen der Bevölkerung reges Interesse und Zustimmung gefunden.2
In zahlreichen Meinungsäußerungen wird das Interview als wirksamer Beitrag zur Unterstützung der jüngsten Friedensinitiative der UdSSR3 gewertet. Die im Interview enthaltenen Aussagen werden als geeignet eingeschätzt, breiten Kreisen der BRD-Bevölkerung den Standpunkt der DDR zu den brennendsten Fragen der Gegenwart und zu der sich daraus ergebenden politischen Verantwortung beider deutscher Staaten nahezubringen. Nur in Einzelfällen wurde die Öffentlichkeitswirksamkeit des Interviews in der BRD mit dem Hinweis auf die geringe Auflage der Wochenzeitschrift »Die Zeit« angezweifelt.
Progressive Kräfte begrüßten insbesondere die unmissverständlichen Darlegungen des Genossen Honecker über den Charakter der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD. Damit sei den illusionären Vorstellungen vom »Offenhalten der deutschen Frage« erneut eine eindeutige Absage erteilt worden. Im Interesse der weiteren Gestaltung der Beziehungen beider Staaten müsste, so wird hervorgehoben, die BRD die volle Souveränität der DDR anerkennen und die Staatsbürgerschaft4 respektieren.
Charakteristische Meinungen dafür sind:
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Genosse Honecker habe unmissverständlich den Standpunkt der DDR zur weiteren Gestaltung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD dargelegt.
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Es wurde aufgezeigt, welchen konkreten Beitrag die BRD zur Gesundung der internationalen Lage leisten müsse.
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Jetzt sei es an der Zeit, seitens der BRD-Regierung den vielen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Wirtschaftskader einiger zentraler Einrichtungen befürworteten es, dass durch Genossen Honecker hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen der DDR und der BRD auf wirtschaftlichem Gebiet eine klare Antwort über den Stellenwert dieser Beziehungen sowie über die Vielzahl der Beschränkungen, die durch die westliche Seite seit Jahrzehnten aufrechterhalten werden, gegeben wurde.
Besonders positiv eingeschätzt wurde die offene Beantwortung aller, auch der eindeutig als Provokation bewerteten Fragen der BRD-Journalisten. Wiederholt wurde jedoch Verwunderung zum Ausdruck gebracht, dass sich Genosse Honecker auch zu solchen Fragen wie Reiseverkehr, Umweltschutz, Pkw-Produktion und Ähnlichem geäußert habe, die bisher in der DDR nicht öffentlich angesprochen worden seien und teilweise »als Tabu« galten.
In Einzeldiskussionen haben Werktätige ihre Unzufriedenheit dahingehend geäußert, erst aus einem Interview mit westlichen Journalisten konkrete Kenntnisse zu den vorgenannten Problemen zu erhalten.
Breiten Raum nahmen in Auswertung des Interviews Diskussionen zum Reiseverkehr in nichtsozialistische Staaten ein. Progressive Bürger bezeichneten die Ausführungen des Genossen Honecker über den Reiseverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten sowie über die dabei durch die Verwehrung der Respektierung der Staatsbürgerschaft der DDR und Währungsfragen auftretenden Belastungen als besonders wertvoll. Mit dem Aufzeigen des Standpunktes der DDR wird ihrer Auffassung nach der Demagogie westlicher Medien und Kreise wirksam entgegengetreten, die der DDR immer wieder unterstellen, die in der Schlussakte von Helsinki5 festgehaltenen Grundsätze der Zusammenarbeit auf humanitärem Gebiet zu missachten.
In zahlreichen Arbeitskollektiven wurden hinsichtlich der weiteren Gestaltung des Reiseverkehrs solche Fragen aufgeworfen wie:
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Sind die Aussagen des Genossen Honecker so zu verstehen, dass demnächst alle Bürger der DDR aus familiären Gründen in die BRD reisen dürfen oder gibt es nach wie vor Beschränkungen?6
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Wurden für die Reisemöglichkeiten neue Gesetze erlassen; wann werden sie veröffentlicht?
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Wie weit gehen die Befugnisse der Deutschen Volkspolizei bei der Genehmigung von Reisen?
(Diesbezügliche Fragen und Diskussionen gab es bereits im Zusammenhang mit der Veröffentlichung über die beabsichtigte Städtepartnerschaft zwischen Eisenhüttenstadt und Saarlouis/BRD, insbesondere unter Bezugnahme auf Sendungen westlicher Funkmedien.)
Offensichtlich beeinflusst durch westliche Medien, interpretieren Beschäftigte unterschiedlichster Bereiche, u. a. aus der Reichsbahnbaudirektion, des Straßenwesens, der Interflug sowie Werktätige aus Großbetrieben, die Ausführungen des Genossen Honecker über die Reisemöglichkeiten in dringenden Familienangelegenheiten dahingehend, dass die bisherige Freizügigkeit gegenüber Rentnern auch auf Bürger, die im mittleren Lebensalter stehen, ausgedehnt würde. Privatreisen zu Verwandten in der BRD seien nicht nur in dringenden Familienangelegenheiten möglich, sondern könnten dann auch ohne besonderen Anlass beantragt werden.
Außerdem wurde spekuliert,
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in absehbarer Zeit werde das Reisealter für Bürger der DDR herabgesetzt bzw. bisherige Beschränkungen würden völlig aufgehoben;
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es würden völlig neue Möglichkeiten für Reisen in das nichtsozialistische Ausland erschlossen.
Nach vorliegenden Hinweisen aus mehreren Bezirken der DDR sprachen Bürger in den Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKÄ vor und erkundigten sich unter Bezugnahme auf das Interview über veränderte Modalitäten bei Reisen in dringenden Familienangelegenheiten.
Leitungskader einiger dem zentralen Staatsapparat nachgeordneter Einrichtungen äußerten ihr Unverständnis über die im Interview dargelegten Reisemöglichkeiten nach der BRD.
Ihrer Ansicht nach werde die bisherige und gegenwärtige Praxis bei der Genehmigung von Privatreisen auf den Kopf gestellt und sie wüssten nicht mehr, wie sie zu verfahren haben.
Unterschiedliche Auffassungen gab es zu den im Interview aufgeworfenen Fragen der Preisentwicklung und Preisgestaltung in der DDR, wobei das angeführte Verhältnis der stabilen Preise für Waren des Grundbedarfs zu den übrigen Preisen im Verhältnis 80 zu 20 % teilweise angezweifelt wurde.
So vertreten z. B. Mitarbeiter des VEB Transpress Verlag für Verkehrswesen und weiterer Bereiche sowie Angehörige katholischer Einrichtungen der Stadt Halle die Auffassung – es handelt sich vor allem um Personen mit akademischer Ausbildung, die mittlere bis gehobene Einkommensverhältnisse aufweisen –, dass die in den letzten Jahren festzustellende Preisentwicklung für eine Vielzahl lebensnotwendiger Konsumgüter zu einer Verschlechterung des Lebensstandards geführt hätte, denn zum Grundbedarf zählen nicht nur die immer wieder aufgezeigten stabilen Preise für die wichtigsten Nahrungsmittel wie Brot, Fett, Fleisch und einiges andere, sondern müssen auch Bekleidung, Schuhe, Haushaltswäsche, bestimmte Möbel und Haushaltsgegenstände einbezogen werden. Gerade bei diesen notwendigen Konsumgütern erfolgte eine für breite Kreise spürbare Verteuerung, mit der die Einkommensentwicklung nicht Schritt halte.
Beschäftigte aus planungs- und investitionsvorbereitenden Bereichen des Verkehrswesens verweisen in diesem Zusammenhang auf die sich ihrer Meinung nach im Einzelhandel abzeichnende Tendenz, Waren des allgemeinen Grundbedarfs in immer größerem Umfang in die Delikat-Geschäfte7 zu weit höheren Preisen zum Verkauf zu bringen.
Häufiger Diskussionsgegenstand war die Ankündigung im Interview, dass der Pkw »Trabant« künftig mit einem VW-Motor ausgerüstet werde. In diesem Zusammenhang wurde des Öfteren über die Preisgestaltung dieses Fahrzeuges spekuliert (genannt wurden Preise bis zu 21 000 Mark) und behauptet, dieser Pkw-Typ werde damit zwar qualitativ wesentlich verbessert, sei aber aufgrund des zu erwartenden höheren Preises immer unerschwinglicher, besonders für kinderreiche Familien und Personen mit niedrigem Einkommen.
In bekannt gewordenen Einzelmeinungen, besonders von progressiven Kräften, stieß die gebrauchte Formulierung »Chef des Geheimdienstes« auf Ablehnung. Damit werde – so wurde behauptet – das MfS den westlichen Geheimdiensten gleichgestellt.8