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Reaktionen auf TASS-Meldung zu Kasachstan

23. Dezember 1986
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die TASS-Mitteilung über die Ereignisse in der Hauptstadt der Kasachischen SSR, Alma-Ata [O/171]

[Faksimile von Deckblatt]

Die TASS-Mitteilung über die Vorkommnisse in Alma-Ata1 am 17. und 18. Dezember 1986 fand in unterschiedlichsten Bevölkerungskreisen große Beachtung.2

Hinweisen aus der Mehrzahl der Bezirke der DDR zufolge wurde die Veröffentlichung besonders von progressiven Bürgern verfolgt und gewertet. Durchgängig werden die rowdyhaften Handlungen verurteilt und als für die sozialistische Gesellschaftsordnung wesensfremd charakterisiert.

In zahlreichen Meinungsäußerungen, darunter von Parteimitgliedern, wird sowohl Verwunderung als auch Besorgnis über diese Vorgänge zum Ausdruck gebracht und in diesem Zusammenhang geschlussfolgert, offenbar gebe es in der Sowjetunion doch noch mehr Probleme, als bisher angenommen wurde.

Dennoch rechne man damit, dass durch die seitens der Partei- und Staatsführung der UdSSR unverzüglich eingeleiteten Maßnahmen die Situation beherrscht und Ordnung und Sicherheit schnell wiederhergestellt werden.

Es dominiert die Auffassung, die Unruhen in Alma-Ata richteten sich nicht gegen die Politik der KPdSU in ihrer Gesamtheit, sondern seien lediglich auf das Territorium der Kasachischen SSR beschränkt.

In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf mögliche feindliche Aktivitäten reaktionärer Kräfte moslemischen Glaubens verwiesen. Wiederholt wurde jedoch betont, diese Vorgänge seien gerade zum jetzigen Zeitpunkt bedauerlich, wo seitens der UdSSR außerordentliche Anstrengungen zur weiteren Durchsetzung ihrer Friedensstrategie unternommen werden.

Eine Anzahl progressiver Bürger, darunter Angehörige der Bezirksverwaltung Zoll Erfurt sowie Werktätige aus dem Bezirk Frankfurt/Oder, brachten ihre Besorgnis zum Ausdruck, dass feindlich-negative Kräfte in der DDR aus den Vorgängen in Alma-Ata Schlussfolgerungen für die Forcierung ihrer Aktivitäten gegen den sozialistischen Staat ableiten könnten.

Allgemeine Zustimmung fand die rasche Informierung über die Vorkommnisse in Alma-Ata durch die sowjetische Nachrichtenagentur TASS sowie deren inhaltliche Wiedergabe durch die Massenmedien der DDR. Dieses Vorgehen wird eingeordnet in die besonders seit dem XXVII. Parteitag3 erkennbare Linie der KPdSU, auch die Öffentlichkeit über bestimmte innenpolitische Vorgänge und Probleme aktuell zu unterrichten.

Kritisch vermerkt wird jedoch, dass die TASS-Mitteilung keine Aussagen über Ursachen und Hintergründe dieser Ausschreitungen enthält und lediglich die Beschlüsse des ZK der KP Kasachstans Erwähnung finden.

Dies nehmen, wie vorliegende Informationen bestätigen, zahlreiche Bürger zum Anlass, um weitergehende Informationen von westlichen elektronischen Funkmedien zu erlangen.

Hinsichtlich der Ursachen der Vorgänge in Alma-Ata überwiegt die Meinung, es sei die Nationalitätenpolitik nicht genügend beachtet worden. Zahlreiche progressive Personen argumentieren, es wäre politisch unklug gewesen, einen Bürger der RSFSR mit der Funktion des 1. Sekretär des ZK der KP Kasachstans zu betrauen. Dieser Schritt habe offensichtlich die »nationalen Gefühle« kasachischer Bürger verletzt und auch nationalistische wie anarchistische Kräfte mobilisiert.

Als eine weitere mögliche Ursache wird gesehen, dass die sowjetische Partei- und Staatsführung bzw. die Sicherheitsorgane der UdSSR die Lage in der Kasachischen SSR nicht real beurteilt hätte. In diesem Sinne äußerten sich z. B. Wissenschaftler der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg, [Bezirk] Halle.

Wiederholt wurde behauptet, die Ereignisse in Alma-Ata seien eine Bestätigung dafür, dass der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Genosse Gorbatschow,4 mit dem auf dem XXVII. Parteitag beschlossenen innenpolitischen Kurs, insbesondere mit der darin enthaltenen konsequenten Orientierung auf Erhöhung der Effektivität der Arbeit sowie hoher Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft, zunehmend auf Widerstand stoße.

Charakteristisch hierfür sind solche Argumente wie:

  • Das konsequente Vorgehen der KPdSU gegen Alkoholismus und Arbeitsbummelei habe motivbildend für entstandene Unzufriedenheiten gewirkt.

  • Die straffe Führungs- und Leitungstätigkeit des Genossen Gorbatschow stoße nicht überall im Land auf Gegenliebe, da man »eingefahrene Gleise« nicht rigoros ändern könne. (Vereinzelt wurde in Diskussionen auf die angeblich mangelnde Leistungsbereitschaft von Bürgern der UdSSR hingewiesen, insbesondere unter jugendlichen Personenkreisen.)

  • Darüber hinaus werden teilweise unter Bezugnahme auf Meldungen westlicher elektronischer Medien nachfolgend genannte weitere mögliche Gründe genannt: Unzureichende Versorgungslage, Schlamperei, Korruption und Misswirtschaft in staatlichen Einrichtungen und Betrieben, gravierende Mängel in der Planung und Leitung.

Vereinzelt wurden solche Fragen gestellt wie:

  • Warum protestieren nur Jugendliche?

  • Richteten sich die jüngsten Beschlüsse des ZK der KP Kasachstans gegen Bürger mohammedanischen Glaubens?

  • Zielten die Ausschreitungen auch gegen die internationalistische Hilfe der UdSSR in Afghanistan?5

Weitere in diesem Zusammenhang beachtenswerte Reaktionen:

Mitglieder einer Anfang Dezember 1986 in Minsk geweilten Sportdelegation des SC Traktor Schwerin berichteten nach ihrer Rückkehr über in Minsk kursierende Gerüchte, wonach die Estnische SSR einen offiziellen Antrag auf Herauslösung aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die sogenannten Wolgadeutschen einen Antrag auf Gründung einer autonomen Republik gestellt hätten.

Nach ersten vorliegenden Hinweisen wird der Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR über die Gestaltung der Rückkehr des Akademiemitgliedes Sacharow6 nach Moskau als eine großzügige Geste der sowjetischen Regierung bewertet.

So schätzten u. a. Wissenschaftler von im Bezirk Potsdam ansässigen Instituten der Akademie der Wissenschaften der DDR ein, dass der Aufenthalt Sacharows in Gorki der UdSSR mehr geschadet habe, als es jetzt in Moskau sein werde.

Vereinzelt wurde in Diskussionen unterschiedlichster Bevölkerungskreise behauptet, die Rückkehr Sacharows nach Moskau sei das Ergebnis ständiger Druckausübung des westlichen Auslands auf die UdSSR.

  1. Zum nächsten Dokument Mindestumtausch 15.12.–21.12.1986

    30. Dezember 1986
    Information Nr. 576/86 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 15. Dezember 1986 bis 21. Dezember 1986

  2. Zum vorherigen Dokument Verdacht auf Sprengstoff am Bahnhof Friedrichstraße

    [ohne Datum]
    Information Nr. 575/86 über das Ergebnis durchgeführter Überprüfungen von auf dem Bahnhof Friedrichstraße deponierten Gepäckstücken nach Sprengstoffen am 21. Dezember 1986