Reaktionen auf Tschernobyl
6. Mai 1986
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl/UdSSR [O/163]
Die Havarie im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl1 ist nach vorliegenden Hinweisen von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der DDR mit Betroffenheit und Anteilnahme aufgenommen worden.
Aus allen Bevölkerungsschichten wurde übereinstimmend die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass die Schäden infolge dieses Vorkommnisses so gering wie möglich bleiben mögen. Gleichzeitig wird auf die technischen Möglichkeiten der UdSSR vertraut, die Havarie und die damit verbundenen Auswirkungen voll zu beherrschen.
Die erfolgte Mitteilung, dass in der DDR andere Reaktortypen im Einsatz sind und für deren Betrieb die nationalen Sicherheitsvorschriften maßgeblich seien, wurde von breiten Bevölkerungskreisen mit Beruhigung und Befriedigung aufgenommen.2
Die Interviews mit kompetenten führenden DDR-Wissenschaftlern hätten viel dazu beigetragen, die mit der Havarie entstandenen Probleme zu verstehen und Gewissheit gegeben, dass für die Bevölkerung der DDR keinerlei Gefahren bestehen.
Da nach Auffassung vieler Personen auch in Zukunft auf die friedliche Nutzung der Atomkraft nicht verzichtet werden könne, würden sich in Auswertung der Havarie die Sicherheitsvorschriften offensichtlich insgesamt noch weiter verschärfen, um ein bei der Einführung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis immer vorhandenes Risiko möglichst gering zu halten.
Wiederholt wurde zum Ausdruck gebracht, eine »absolut zuverlässige Technik« werde es niemals geben, zumal es sich gerade bei der Nutzung der Atomkraft um komplizierteste technische Systeme handele.
Von interessierten Personenkreisen wurde mehrfach die Frage aufgeworfen, wie sicher die in der DDR betriebenen bzw. in Bau befindlichen Kernkraftwerke seien.
Vor allem Werktätige auf derartigen Baustellen in Lubmin, [Bezirk] Rostock und Stendal, [Bezirk] Magdeburg, brachten in Meinungsäußerungen eine gewisse Sorge und Unsicherheit über die möglichen Folgeschäden einer Havarie in Reaktoren zum Ausdruck.3 Sie seien nicht genügend über die technischen und technologischen Probleme beim Betrieb eines Kernkraftwerkes sowie über die Verhinderung von Störungen bzw. deren Beseitigung aufgeklärt und wollten wissen, ob und wie man in der DDR auf mögliche Havarien vorbereitet sei. Dazu werden von ihnen umfassendere Informationen erwartet.
Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz des Kernkraftwerkes »Bruno Leuschner«, [Bezirk] Rostock, stellten nach Bekanntwerden des Vorkommnisses in Tschernobyl vor allem Fragen nach dessen Ursachen. Nachdem bei ihnen Klarheit über den dort eingesetzten Reaktortyp bestand, vertraten sie mehrheitlich die Auffassung, dass sich in ihrem Werk eine derartige Havarie nicht ereignen könne.
In einzelnen Meinungsäußerungen wurde behauptet, die Kernreaktoren in der DDR seien – obwohl ein anderer Typ – ebenfalls sowjetische Konstruktionen und würden daher auch keine größere Sicherheit bieten. Im Falle einer ähnlichen Havarie in der DDR hätte das ungleich schwerwiegendere Folgen, da unser Territorium wesentlich dichter besiedelt sei.
Es wurde daher weiter die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt zu verantworten sei, in unserem Land derartige Energiequellen zu erschließen.
Im Zusammenhang mit der intensiven Verfolgung der in den DDR-Medien und den in westlichen Funkmedien veröffentlichten Beiträgen zur Havarie in Tschernobyl wurde durch breite Bevölkerungskreise vielfach Unverständnis über das relativ späte Reagieren seitens der Publikationsorgane der DDR bzw. der UdSSR geäußert und es wurden Vergleiche zur angeblich aktuelleren und umfassenderen Berichterstattung der westlichen Funkmedien gezogen.
Überdies habe das späte Reagieren der DDR-Publikationsorgane zu unnötigen Gerüchten und Spekulationen geführt, die sich nachträglich als falsch erwiesen hätten. Vor allem progressive Personen werteten die Informationen der Westmedien als »Propagandarummel«, der insbesondere durch reaktionäre Kreise von NATO-Staaten zur erneuten Torpedierung der sowjetischen Friedensvorschläge4 diene und von den Diskussionen über USA-Atomtests und das SDI-Programm5 ablenken solle.
Sie bedauerten, dass es gerade jetzt zu einer Havarie in einem Kernkraftwerk der UdSSR gekommen sei, die in schamloser Weise durch westliche Medien ausgenutzt werde. Der gleiche Personenkreis argumentierte weiter, auch in den kapitalistischen Staaten habe es bereits mehrere Havarien in Kernkraftwerken gegeben, doch ein derartiges »Hochspielen« solcher Vorkommnisse sei hier ausgeblieben. Die westlichen Medien hätten sich dann lediglich auf die alleinige Mitteilung von Fakten beschränkt.
In diesem Zusammenhang äußerten auf politisch-realistischen Positionen stehende kirchenleitende Persönlichkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, dass »diese Katastrophe Wasser auf die Mühlen derer sei, die sich gegen die Friedensvorschläge der UdSSR richten«. In der westlichen Welt würde ihrer Auffassung nach kaum jemand von der schädigenden Wirkung der ständigen Atomwaffentests der USA sprechen.
In Einzelfällen identifizierten sich Personen aus unterschiedlichen Bevölkerungskreisen mit den Meldungen der westlichen Funkmedien und zweifelten den Wahrheitsgehalt der Berichterstattung der DDR an.
Ihrer Meinung nach sei das tatsächliche Ausmaß der Havarie in Tschernobyl viel größer als gemeldet. Sie »argumentierten«:
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Es sei unglaubhaft, dass es nur zwei Todesopfer gegeben haben solle.
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In der VR Polen sowie in den skandinavischen Ländern seien verseuchte Zonen festgestellt worden.
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Die UdSSR hätte niemals eine Havarie in einem ihrer Kernkraftwerke zugegeben, wenn nicht in anderen Ländern eine erhöhte Radioaktivität festgestellt worden wäre.
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Obwohl auch in der DDR höhere Werte gemessen wurden, seien die bisherigen Veröffentlichungen als Versuch zu werten, die Havarie zu bagatellisieren.
In diesem Zusammenhang äußerten Mitarbeiter des Zentralinstituts für Isotopen- und Strahlenforschung der DDR in Leipzig, dass die sowjetischen Behörden zu spät und erst dann informiert hätten, als die radioaktiven Wolken die Grenze der UdSSR erreicht hätten.
Offensichtlich beeinflusst durch Sendungen westlicher Funkmedien bezweifelten Studenten einer Seminargruppe der Sektion Chemie an der Universität Greifswald, [Bezirk] Rostock, dass in der DDR regelmäßig Messungen der Radioaktivität durchgeführt werden, wie sie in anderen Ländern üblich seien. Bei einer solchen Dosis, wie sie in Dänemark gemessen worden sein soll, müsse die Zahl der Todesopfer in Tschernobyl infrage gestellt werden. Auf Spätfolgen, die ihrer Meinung nach »mit Sicherheit« zu erwarten seien, wäre ebenfalls noch nicht hingewiesen worden.
In Einzelfällen erfolgten beim Jugendreisebüro der DDR Rücktritte bzw. Absichtserklärungen zu Rücktritten von Reisen in die UdSSR, die mit der Havarie des Kernkraftwerkes in Tschernobyl begründet wurden.
Eltern und Schüler zweier Schulklassen, die eine Freundschaftsreise nach Kiew geplant haben, äußerten zum Teil Bedenken wegen dieser Fahrt, da die tatsächliche Lage in dem betreffenden Gebiet ungewiss sei.