Reaktionen der Bevölkerung auf die 3. Tagung des ZK der SED
2. Dezember 1986
Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die 3. Tagung des ZK der SED [O/169]
Nach vorliegenden Informationen ist die 3. Tagung des ZK der SED von allen Bevölkerungsschichten mit großer Aufmerksamkeit verfolgt worden.1 Besonderes Interesse galt dem Bericht des Genossen Hermann Axen2 und dem Schlusswort des Generalsekretärs des ZK der SED,3 Genossen Erich Honecker.4
Angehörige aller Klassen und Schichten bringen ihre ungeteilte Zustimmung darüber zum Ausdruck, dass die Partei unter den gegenwärtigen Bedingungen der internationalen Klassenauseinandersetzung mit Optimismus und Konsequenz vorwärtsweisend den Weg zur Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED5 aufzeigt sowie sachlich auf die zu lösenden Schwerpunktaufgaben orientiert.
Bezug nehmend auf die Aussagen zur außenpolitischen Tätigkeit wird immer wieder hervorgehoben, welche zahlreichen Aktivitäten und Initiativen Partei und Regierung auf der Grundlage einer realen Analyse der internationalen Lage unternehmen, um im abgestimmten Vorgehen mit der UdSSR und den anderen Bruderstaaten den Prozess der Entspannung in Europa zu fördern sowie zur Minderung der Kriegsgefahr beizutragen. In diesem Zusammenhang wird die Weiterführung der Politik des Dialogs im Interesse der Minderung der Konfrontation zugunsten vertrauensfördernder Zusammenarbeit begrüßt.
Es wird argumentiert,
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die DDR unternehme alles, um einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung des Friedens zu leisten und unterstütze aktiv die Friedenspolitik der UdSSR,
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eine Koalition der Vernunft stelle gegenwärtig die einzige Möglichkeit dar, um auf dem Wege der Entspannung voranzukommen,
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nur eine flexible Außenpolitik ermögliche, die Menschheit vor einem nuklearen Inferno zu bewahren.
In diesem Sinne wurde die Feststellung des Genossen Honecker hervorgehoben, dass nach Abbau der Mittelstreckenraketen in Europa auch die als Gegenmaßnahme installierten taktischen Raketen vom Boden der DDR entfernt werden könnten.
Arbeiter, Angestellte sowie Angehörige der Intelligenz heben die von realen Grundpositionen getragene Dialogpolitik der Partei- und Staatsführung der DDR gegenüber der BRD hervor und werten die Rede des BRD-Bundeskanzlers Kohl6 auf dem CDU-Parteitag in Münster als Belastung der bilateralen Beziehungen und Rückkehr in die Zeiten des »kalten Krieges«.7
Charakteristische Meinungsäußerungen dafür sind,
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die BRD versuche, dem Abrüstungsdruck der sozialistischen Staaten auszuweichen,
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die Äußerungen Kohls würden die wahre Haltung der BRD-Regierung gegenüber der DDR klar zum Ausdruck bringen,
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die Verleumdungen Kohls in Münster stellten erneut eine eklatante Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR dar.
Mehrfach wurde von diesem Personenkreis befürchtet, dass diese Angriffe gegen die DDR das bisher Erreichte in den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD infrage stellen und dass diese Ausfälle vor allem Konsequenzen für den Reiseverkehr von Bürgern der DDR in das nichtsozialistische Ausland haben könnten.
In Meinungsäußerungen von Werktätigen zur weiteren Durchsetzung der ökonomischen Strategie der Partei wird die Bereitschaft bekundet, noch größere Anstrengungen zur Lösung anstehender Aufgaben am eigenen Arbeitsplatz zu unternehmen.
Die von der Partei angestrebten Steigerungsraten zur Sicherung eines hohen ökonomischen Wachstums seien sehr anspruchsvoll, aber zur erfolgreichen Weiterführung des bewährten Kurses der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik unbedingt notwendig.
In diesem Zusammenhang stellten sich zahlreiche Kollektive neue Verpflichtungen, um mit täglich hohen Leistungen die Plan- und Wettbewerbsvorhaben 1986 zu erfüllen und zu überbieten.
Darüber hinaus wurde mehrfach, vor allem durch leitende Kader der volkseigenen Industrie, hervorgehoben, dass es zur Realisierung dieser Aufgabenstellungen noch stärker darauf ankomme, entsprechende Einstellungen und Motivationen bei allen Werktätigen auszuprägen und wissenschaftlich-technische Erkenntnisse noch schneller in die Praxis zu überführen; nur durch die Nutzung aller Möglichkeiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts könne ein solcher Zuwachs gesichert werden.
Von Arbeitern, Angestellten und auch Leitungskadern volkseigener Betriebe werden jedoch auch solche Auffassungen vertreten, der Bericht sei, wie bereits bei vorangegangenen Tagungen, insgesamt zu unkritisch angelegt. Er habe einseitig eine »überschwängliche Darstellung« der ökonomischen Erfolge vorgenommen. Probleme und Mängel bei der Sicherung der Produktion bzw. der Planerfüllung wären nur ungenügend angesprochen worden. Das betreffe solche Fragen wie z. B. unkontinuierliche Produktionsprozesse, hervorgerufen durch leitungsmäßige Mängel, bürokratische Arbeitsweise, Nichtauslastung der Grundfonds, Störanfälligkeit besonders bei veralteten Maschinen und Anlagen, ungenügende Gewährleistung der materiell-technischen Voraussetzungen (vor allem Ersatzteile).
Im Zusammenhang mit solchen Auffassungen wird Unverständnis darüber geäußert, dass in den Massenmedien der DDR ständig gute Bilanzen in allen Bereichen der Volkswirtschaft ausgewiesen werden, obwohl nach ihrer Kenntnis im eigenen Arbeitsbereich Probleme in der Planerfüllung existierten.
Dabei wird erneut die Objektivität der Berichterstattungen in den Medien angezweifelt und vereinzelt die Richtigkeit der auf der Tagung genannten herausragenden Ergebnisse in der Planerfüllung als überhöht abgetan bzw. infrage gestellt.
Hinweisen aus mehreren Bezirken zufolge wurde es u. a. von Beschäftigten volkseigener Betriebe als positiv empfunden, dass im Schlusswort des Genossen Honecker auch »kritische Töne« zu hören waren.
So bezeichnen beispielsweise Arbeiter aus dem VEB ACK Piesteritz, [Bezirk] Halle, und Leitungskader der Ingenieurschule für Bauwesen/Berlin die offene Kritik zu Mängeln in der Zementproduktion als sehr bemerkenswert. Damit gäbe es »erste Anzeichen« einer ähnlich ungeschminkten Darstellung der tatsächlichen Situation, wie es in der UdSSR durch Genossen Gorbatschow8 praktiziert werde.
Leitungskader des VEB Zementwerke Bernburg, [Bezirk] Halle, sehen eine im Schlusswort nicht genannte Ursache für die zeitweilig unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit Zement auch darin, dass ihr Betrieb beauftragt wurde, Klinker (Ausgangsstoff zur Herstellung hochwertigen Zements) in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet zu exportieren, infolgedessen zwangsläufig die Zementproduktion gedrosselt werden musste.
Einzelne leitende Kader des kreisgeleiteten Bauwesens Rostock sind der Auffassung, die diesbezüglich durch Genossen Honecker geäußerten Bemerkungen hätten auf diese Frage keine erschöpfende Antwort gegeben.
Im Zusammenhang mit der 3. Tagung weiter bekannt gewordene Meinungsäußerungen beinhalteten mit unverminderter Intensität Fragen des Handels und der Versorgung der Bevölkerung.
Grundtenor dabei ist, dass sich die in der Volkswirtschaft der DDR erreichten guten Ergebnisse nicht in entsprechendem Maße im Warenangebot des Einzelhandels widerspiegeln. Analog den Hinweisen der ZAIG vom 17. November 1986 über Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Problemen des Handels und der Versorgung9 beziehen sich kritische Hinweise vor allem auf die qualitäts-, sortiments- und bedarfsgerechte Versorgung, verbunden mit Diskussionen zur Preisgestaltung vieler Erzeugnisse.
In typischen Meinungsäußerungen wird darüber hinaus zum Ausdruck gebracht,
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es sei noch nicht gelungen, ein stabiles, bedarfsgerechtes und kontinuierliches Warenangebot zu sichern sowie immer wiederkehrende Handelslücken bei bestimmten Erzeugnissen auszuschließen,
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die Steigerungsraten im Einzelhandel beruhten ausschließlich auf Preiserhöhungen und seien nicht auf die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung zurückzuführen,
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von einem attraktiven Angebot in mehreren Preisklassen, von dem noch vor einigen Jahren die Rede war, sei kaum noch etwas zu spüren,
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die Pläne seien überall erfüllt, doch die Schlangen in den Geschäften würden immer länger und das Angebot immer schlechter,
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die Lage auf dem Gebiet der Ersatzteilwirtschaft, insbesondere auf dem Kfz-Sektor, sei nach wie vor prekär und es werde immer schwieriger, den berechtigten Forderungen der Bürger nachzukommen.
Im Zusammenhang mit Reaktionen zu Versorgungsfragen wurden Auffassungen aus dem Bezirk Rostock, darunter von Arbeitern aus Schwerpunktbetrieben, bekannt, wonach die sich angeblich verschlechternde Lage auf diesem Gebiet zunehmende Ausgaben für die Landesverteidigung zurückzuführen sei. Sie argumentierten, die Zielstellung des Imperialismus, die sozialistischen Staaten durch steigende Verteidigungsausgaben wirtschaftlich zu ruinieren, zeige in der DDR bereits Auswirkungen, indem sich »vieles rückläufig entwickele« und die Wirtschaft keine ausreichenden Reserven mehr habe.
Abwertende bzw. negative Meinungsäußerungen zur 3. Tagung wurden bisher nur in Einzelfällen bekannt.
Sie beinhalten im Wesentlichen:
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Die 3. Tagung habe nichts Neues gebracht.
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Auf solche Tagungen könne verzichtet werden, da sich doch nichts verändere.
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Man solle sich nicht an den Erfolgen »berauschen«. Die Praxis sehe doch anders aus.