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Reaktionen im Zusammenhang mit den Volkswahlen am 8.6.1986

2. Juni 1986
Hinweise über die Reaktion der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit den Volkswahlen am 8. Juni 1986 [O/164]

Die Volkswahlen finden unter breitesten Kreisen der Bevölkerung der DDR zunehmende Beachtung.1 In zahlreichen Meinungsäußerungen wird der enge Zusammenhang zwischen den Beschlüssen des XI. Parteitages2 und der Volksbewegung zur Vorbereitung der Wahlen am 8. Juni 1986 deutlich. Auf den vielfältigen Wahlveranstaltungen und in persönlichen Gesprächen finden der auf die Erhaltung und Festigung des Friedens gerichtete außenpolitische Kurs der SED und die Friedensinitiativen der UdSSR3 weitgehend Zustimmung, werden die erreichten Ergebnisse auf sozialpolitischem Gebiet gewürdigt und zum Anlass genommen für neue Initiativen und Verpflichtungen in allen gesellschaftlichen Bereichen zur Realisierung der Beschlüsse des XI. Parteitages. Damit verbunden wurde die Bereitschaft, die Wahlen zu einem klaren Bekenntnis für den sozialistischen Staat zu gestalten und am Wahltag bereits frühzeitig vom Wahlrecht Gebrauch zu machen.

Mitarbeiter aus mehreren Bereichen zentraler staatlicher Organe, überwiegend Parteimitglieder, brachten jedoch ihr Unverständnis über die ihrer Meinung nach zu geringe Zahl öffentlicher Wählerforen und anderen Wahlveranstaltungen zum Ausdruck und stellten dabei Vergleiche mit vorangegangenen Wahlen an.

Die Mehrzahl derartiger Veranstaltungen fände in Betrieben mit einem speziell ausgewählten Personenkreis statt, sodass die Möglichkeiten des persönlichen Kennenlernens der Kandidaten für die Volksvertretungen, besonders bezogen auf die Stadtverordnetenversammlung in Berlin und auf die Bezirkstage, zu gering seien.

Nach vorliegenden Einzelhinweisen aus mehreren Bezirken der DDR (u. a. Neubrandenburg, Gera und Cottbus) hätten zuständige Mitarbeiter staatlicher Organe auf Wahlveranstaltungen bei entsprechenden Anfragen insbesondere zu anstehenden kommunalpolitischen Problemen unsachgemäße, unverbindliche Antworten erteilt, die zur Beeinträchtigung des Ergebnisses der jeweiligen Veranstaltung geführt und verärgerte Reaktionen bei den Teilnehmern auslösten.

Erkenntnissen aus allen Bezirken der DDR zufolge stehen im Mittelpunkt der Diskussionen im Rahmen der Wahlvorbereitung kommunalpolitische Fragen.

Sowohl in Gestalt von Hinweisen, Vorschlägen, Anliegen und Beschwerden – vorgetragen auf Wahlversammlungen bzw. bei der Übergabe der Wahlbenachrichtigungen – wie auch in Form von Eingaben wurde insbesondere auf folgende Probleme, teilweise verbunden mit entsprechenden Forderungen, aufmerksam gemacht:

  • Lösung vorhandener Wohnungsprobleme (unzumutbare Wohnverhältnisse aufgrund vernachlässigter Werterhaltungsmaßnahmen, nicht angemessener Wohnraum und lange Wartezeiten auf eigenen Wohnraum);

  • Bereitstellung von Baukapazitäten und Materialien für eine allseitige Werterhaltung an Gebäuden (Rekonstruktion von Altbausubstanz, anstehende Reparaturarbeiten, Qualitätsmängel bei Wohnungsneubau und -rekonstruktion);

  • Instandsetzung von Straßen und Wegen, insbesondere die Beseitigung von Fahrbahnschäden;

  • Beseitigung von bestehenden Mängeln in der Trinkwasserversorgung (Forderungen nach stabiler Versorgung und verbesserter Qualität);

  • Beseitigung von Ursachen für Umweltverschmutzungen und anderen Umweltbelastungen;

  • konsequentere Durchsetzung der Stadt- und Gemeindeordnungen (mangelnde Ordnung und Sauberkeit, schleppende Fertigstellung von Grünanlagen, gerade in Neubaugebieten);

  • kontinuierliche Entsorgung, vorwiegend in Kleinstädten und Gemeinden;

  • Verbesserungen im Dienstleistungsbereich (Verkürzung der Wartezeiten, besonders bei Reparaturen von hauswirtschaftlichen Geräten und Erzeugnissen der Heimelektronik);

  • Beseitigung langer Wartezeiten bei der Genehmigung von privaten Telefonanschlüssen;

  • Sicherung einer stabilen und kontinuierlichen medizinischen Betreuung und Versorgung vor allem in ländlichen Gebieten (Verbesserung der hausärztlichen Betreuung und der Medikamentenversorgung, Abbau langer Wartezeiten).

Die Lösung vorgenannter, oft seit vielen Jahren anstehender Probleme scheitert jedoch häufig, so wurde argumentiert, an finanziellen und materiellen Voraussetzungen. Die durch Verschulden örtlicher Staatsorgane und der VEB Gebäudewirtschaft nichtrealisierten Zusagen und Versprechungen (sie wurden zum Teil bereits bei den Kommunalwahlen im Jahre 1984 gegeben) bzw. von ihnen verursachte Terminverzüge in der Bearbeitung von Eingaben waren Gegenstand zahlreicher kritischer Meinungsäußerungen. In diesem Zusammenhang wurde unter Bezugnahme auf zuständige Mitarbeiter staatlicher Organe der unteren und mittleren Ebene wiederholt hingewiesen auf Erscheinungen bürokratischer und administrativer Arbeitsweisen, auf mangelnde Konsequenz und Entscheidungsfreudigkeit sowie auf die Nichtausschöpfung örtlicher Reserven.

Des Öfteren wurde auch hingewiesen auf den »kampagnehaften« Charakter der Arbeit von Abgeordneten, besonders in Phasen der Wahlvorbereitung und anlässlich anderer bedeutsamer politischer und gesellschaftlicher Höhepunkte.

Die Mehrzahl der mit mündlichen bzw. schriftlichen Eingaben in Erscheinung getretenen Personen erklärte die Bereitschaft zur Mitwirkung an der Beseitigung aufgezeigter Unzulänglichkeiten und an der Lösung anstehender Probleme. Nur bei einer relativ geringen Anzahl von Bürgern wird die Absicht deutlich, eindeutig persönlich motivierte Forderungen unter Ausnutzung der Wahlvorbereitung als Druckmittel zu benutzen.

Inhalt zahlreicher Anfragen, Kritiken und Beschwerden auch im Vorbereitungszeitraum der Volkswahlen ist das Versorgungsniveau der Bevölkerung. Besonders Einwohner von Kleinstädten und Landgemeinden verweisen fortgesetzt auf

  • Mängel im durchgängigen Angebot von Erzeugnissen der Nahrungsgüterindustrie,

  • ein unzureichendes Angebot an modischer Oberbekleidung sowie an Untertrikotagen, besonders in unteren und mittleren Preisklassen,

  • Warenlücken bei Erzeugnissen des täglichen Bedarfs und bei Strickwolle,

  • eine mangelhafte Ersatzteilversorgung und auf das geringe Angebot hochwertiger Konsumgüter (Ersatzteile für Kfz und Landmaschinentechnik; Erzeugnisse der Heimelektronik, Gefrieraufsätze).

Derartige Probleme widerspiegeln sich auch in einer erhöhtem Eingabetätigkeit an das Ministerium für Handel und Versorgung sowie an örtliche Staatsorgane. Besonders im Zusammenhang mit Versorgungsfragen und den anstehenden Problemen bei der Werterhaltung und Instandsetzung von Wohngebäuden wird häufig Unverständnis über die »Bevorzugung« der Hauptstadt der DDR, Berlin, geäußert.

Teilweise umfangreiche Diskussionen und Auseinandersetzungen wurden mit Personen geführt, die die Annahme der Wahlbenachrichtigungen verweigerten.

Entsprechend vorliegenden Hinweisen aus der Hauptstadt und den Bezirken der DDR konzentriert sich dieser Personenkreis insbesondere auf

  • Übersiedlungsersuchende,4

  • Angehörige der Sekte »Zeugen Jehovas«,5

  • Haftentlassene und kriminell gefährdete Personen,

  • kirchliche Amtsträger und aktive Laienchristen, insbesondere der katholischen Kirche,

  • weitere Personen, die eine politisch-negative Grundhaltung zur sozialistischen Gesellschaftsordnung bzw. zu gesellschaftlichen Teilbereichen einnehmen und bereits zum Kreis der potenziellen Nichtwähler zählen,

  • Bausoldaten,6

  • Personen, die aus Verärgerung über nichtrealisierte persönliche Anliegen und Forderungen seitens zuständiger staatlicher Organe handelten.

Die Gründe/Motive für die Verweigerung der Annahme der Wahlbenachrichtigungen bzw. für weitere Fälle der ausdrücklichen Ankündigung einer Nichtteilnahme an den Volkswahlen sind vielschichtig. Teilweise basieren sie auf einer politisch-negativen bis feindlichen Grundhaltung gegenüber der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Darüber hinaus wurden folgende beachtenswerte Gründe von den Betreffenden genannt:

  • Ablehnung von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten,

  • religiöse Motive,

  • Unzufriedenheit mit Arbeits- und Lebensbedingungen,

  • Nichteinhaltung von durch örtliche Staatsorgane gegebenen Zusicherungen zur Lösung anstehender Probleme (Schwerpunkt: Wohnungsfragen, Reparaturen an Wohngebäuden),

  • Umweltbelastungen,

  • unbefriedigende Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs, Ersatzteilen und hochwertigen Konsumgütern,

  • »Benachteiligung« der älteren Generation (unter Hinweis auf die vom XI. Parteitag der SED beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen).7

Zahlreiche kirchliche Amtsträger sowie religiös gebundene Personen der evangelischen Kirchen in der DDR äußerten offiziell die Absicht, an den Volkswahlen teilzunehmen und für die Kandidatenliste der Nationalen Front zu stimmen. In vielfältigen Gesprächen äußerten sie sich zustimmend zum Wahlaufruf, insbesondere zu den darin enthaltenen Grundzügen der Friedenspolitik der DDR. Einzelne kirchenleitende Kräfte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen bemängelten jedoch auf einer Wahlveranstaltung mit dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Suhl die »ungenügende« Berücksichtigung ökologischer Fragen im Wahlaufruf. Ihre diesbezüglichen »Vorbehalte« bezeichneten sie als »notwendige Ergänzungen« zum Wahlaufruf, die sie im Sinne eines Dialogs verstanden wissen wollten.

Einige kirchliche Amtsträger aus dem Bereich der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs begründeten die Ankündigung ihrer Nichtteilnahme (potenzielle Nichtwähler) mit den Argumenten:

  • In der DDR werde auf die Bürger »Druck« ausgeübt, um eine hohe Wahlbeteiligung zu sichern.

  • Die Wahlen würden »kontrolliert«; Nichtteilnehmer hätten berufliche und gesellschaftliche Nachteile.

  • Durch »freie« Wahlen sollte jeder Bürger selbst entscheiden können, wem er seine Stimme gibt.

Einzelhinweise über die Ankündigung der Nichtteilnahme an den Volkswahlen durch kirchliche Amtsträger, Theologiestudenten und aktive Laienchristen liegen auch aus den Bereichen anderer evangelischer Landeskirchen vor. Ablehnungen der Teilnahme an den Volkswahlen bekundeten insbesondere Amtsträger und aktive Laienchristen der katholischen Kirche. Entsprechende Hinweise liegen dazu besonders aus dem Bezirk Dresden vor.

Wie bereits bei vorausgegangenen Wahlen äußerten Studenten von Universitäten, Hoch- und Fachschulen erneut Unverständnis darüber, ihrer Wahlpflicht am Ausbildungsort nachkommen zu müssen. Charakteristische Argumente beinhalten:

  • Man fühle sich in seinem Wahlrecht eingeengt.

  • Die Entscheidung sei Ausdruck des mangelnden Vertrauens des Staates gegenüber den Studenten.

  • Die zu wählenden Kandidaten seien – im Gegensatz zum Heimatort – nicht bekannt.

Parteigruppenmitglieder einer Seminargruppe der Fachrichtung »Politische Ökonomie« an der Hochschule für Ökonomie »Bruno Leuschner«/Berlin verfassten ein sogenanntes Memorandum. Sie erklärten darin die Bereitschaft, ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nachzukommen, bezeichneten es aber als ihre Pflicht, gegen die ihrer Ansicht nach fehlerhafte Entscheidung des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen – bezogen auf die Wahlbeteiligung am Studienort – Stellung zu nehmen. Sie werten sie als »Einschränkung der persönlichen Freiheit« und als »Bevormundung«.

Durch die Parteileitung der Hochschule und die staatlichen Leiter wurden unverzüglich Maßnahmen realisiert, um durch politisch-ideologische Einflussnahme auf die Verfasser des Memorandums einzuwirken und eine Öffentlichkeitswirksamkeit an der Hochschule zu verhindern.

Heftige Diskussionen und Missfallens-Bekundungen verursachte die auf einem Jungwählerforum an der Medizinischen Fachschule Suhl unter Teilnahme eines Kandidaten für den Bezirkstag (Vorsitzender des Bezirksvorstandes der LDPD) vom hauptamtlichen FDJ-Sekretär der Fachschule erhobene ultimative Forderung, dass alle Studenten dieser Einrichtung am Wahltag bis 8.00 Uhr zu wählen haben.

Die fortgesetzten Bestrebungen westlicher Massenmedien zur Herabwürdigung und Diskreditierung des demokratischen Charakters der Volkswahlen finden nach vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR nur eine geringe Resonanz. Eine Übernahme und Verbreitung derartiger westlicher Argumente und Parolen erfolgte bisher durch bereits in der Vergangenheit mit politisch-negativen Diskussionen in Erscheinung getretenen Personen, darunter zahlreichen Übersiedlungsersuchenden, sowie durch reaktionäre kirchliche und andere hinlänglich bekannte feindlich-negative Kräfte, die jedoch damit keine Öffentlichkeitswirksamkeit erzielten.

Mehrere namentlich bekannte Exponenten politischer Untergrundtätigkeit bekräftigten ihre Absicht, nicht an der Wahl teilzunehmen. Einzelne Mitglieder sogenannter Ökologiegruppen in der Hauptstadt der DDR erwogen in internen Gesprächen, in einem Sonderwahllokal8 zu wählen, da man am Wahltag »in der Masse untertauche« und die Ablehnung der Kandidaten nicht öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck bringen könne. Außerdem verwiesen sie auf die Notwendigkeit, sauber und deutlich die Kandidaten auf den Wahlscheinen durchzustreichen, damit sie als Nein-Stimme »anerkannt« würden.

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    3. Juni 1986
    Information Nr. 266/86 über die weitere Durchsetzung der Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit im grenzüberschreitenden Verkehr nach und von Westberlin

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    2. Juni 1986
    Information Nr. 265/86 über die weitere Durchsetzung der Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit im grenzüberschreitenden Verkehr nach und von Westberlin