Repressalien und Misshandlungen in der NVA
5. März 1986
Information Nr. 104/86 über Erscheinungen der Störung sozialistischer Beziehungen in der 1. Raketenabteilung Tautenhain, 3. Raketenbrigade, MB III und im Grenzregiment 10 Plauen, GK-Süd
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen traten seit November 1985, Zeitpunkt der Einberufung von Wehrpflichtigen, in der Stabsbatterie 1 der 1. Raketenabteilung Tautenhain, 3. Raketenbrigade, MB III, verstärkt Erscheinungen der sogenannten negativen Traditionspflege auf, die sich im Wesentlichen auf eine Benachteiligung, auf Repressalien und körperliche Misshandlungen von Soldaten des ersten Diensthalbjahres durch Soldaten des zweiten und dritten Diensthalbjahres bezogen und in folgenden Handlungen ihren Ausdruck fanden:1
Soldaten des ersten Diensthalbjahres wurden gezwungen,
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mit Industriereiniger eingestreute Waschräume unter Aufsicht von Soldaten des zweiten und dritten Diensthalbjahres zum Teil mehrfach zu reinigen,
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Soldaten des dritten Diensthalbjahres unter Androhung von »Sonderschichten« im Weigerungsfall das Frühstück und Abendbrot auf den Unterkünften zu servieren, das Geschirr abzuwaschen und Essenreste zu beseitigen,
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Außen- und Innenreviere unter »Kontrolle« von Soldaten des zweiten und dritten Diensthalbjahres zu reinigen, die dabei über Wiederholungen bzw. zusätzliche »Bestrafungen« entscheiden.
Durch Soldaten des dritten Diensthalbjahres wird massiv versucht, darauf Einfluss zu nehmen, ob Soldaten des ersten Diensthalbjahres Ausgang oder Urlaub erhalten.
Am 24. Januar 1986 wurde in einem Fall durch zwei Soldaten des zweiten Diensthalbjahres (Militärkraftfahrer) zwei Soldaten des ersten Diensthalbjahres, nachdem sie wegen angeblicher Aufsässigkeit an den Händen gefesselt worden waren, mittels eines Messers die Buchstaben »MKF« (Militärkraftfahrer) bzw. das Symbol eines Herzens in die Bauchhaut eingeritzt.
Im Ergebnis der auf Hinweis des MfS sofort eingeleiteten Untersuchungen durch eine Kommission des MB III und den Militärstaatsanwalt wurde festgestellt, dass Erscheinungen der Störung sozialistischer Beziehungen2 in allen Einheiten der 3. Raketenbrigade, insbesondere in den Stabsbatterien zu verzeichnen sind, wobei fast alle Soldaten des ersten Diensthalbjahres einbezogen wurden. Die Repressalien und Benachteiligungen werden durch diese Soldaten überwiegend aus Angst vor Tätlichkeiten widerspruchslos ausgeführt bzw. geduldet.
Diese zum Teil menschenunwürdigen Handlungen führten bei den Soldaten des ersten Diensthalbjahres zu einer negativen Haltung zum Sinn des Soldatseins, zur Unlust zum Dienst und wirkten sich hemmend auf die Entwicklung und Leistungsfähigkeit der Kampfkollektive aus.
Die geführten Untersuchungen bestätigten weiter, dass durch die verantwortlichen Offiziere nicht ernsthaft gegen die ihnen bekannten Erscheinungen vorgegangen wurde, da sie das Vorgehen des dritten Diensthalbjahres gegen das erste Diensthalbjahr als »Selbstdisziplinierung« und »Selbstregulierung« des Dienstablaufes, Ausgangs und Urlaubs und als »Entlastung« betrachteten.
Durch Vorgesetzte wurde eine unzureichende Kontrolle und Einflussnahme auf die Führungs- und Leitungstätigkeit, den Dienstablauf und die politisch-ideologische Arbeit ausgeübt. Gegen die Störung sozialistischer Beziehungen in den Einheiten durch die Führung der Raketenbrigade eingeleitete Maßnahmen beschränkten sich lediglich auf die Auswertung einzelner Beispiele ohne nachhaltige bzw. durchgreifende Beseitigung dieser negativen Erscheinungen.
Wie weiter bekannt wurde, war bei einem Kontrolleinsatz der Politischen Verwaltung des Kommandos Landstreitkräfte3 im Zeitraum 30. Januar bis 1. Februar 1986 in dieser Raketeneinheit festgestellt worden, dass die im Herbst 1985 erfolgte Auswertung von Vorkommnissen der Störung sozialistischer Beziehungen in den Einheiten des Militärbezirkes III durch den Kommandeur und die Politorgane nicht mit der erforderlichen Sorgfalt vorgenommen wurde.
Trotz des Vorliegens entsprechender Signale wurde die politisch-ideologische und erzieherische Arbeit einschließlich der Potenzen der Partei- und FDJ-Organisation nicht zielgerichtet auf die vorbeugende Verhinderung und Bekämpfung derartiger Erscheinungen ausgerichtet.
Im Ergebnis der Untersuchungen wurden gegen Offiziere und Unteroffiziere disziplinarische und parteierzieherische Maßnahmen eingeleitet. Drei Angehörige des dritten Diensthalbjahres und drei Angehörige des zweiten Diensthalbjahres wurden zu Dienst in der Disziplinareinheit bestraft.4
Darüber hinaus wurden im Rahmen einer Führungsberatung der 3. Raketenbrigade, einer Offiziersdienstversammlung sowie einer durch die Führung der Brigade in der Raketenabteilung durchgeführten Versammlung eine Auswertung der Vorkommnisse vorgenommen und entsprechende Maßnahmen zur Verstärkung der politisch-ideologischen und erzieherischen Arbeit, der Stabilisierung des politisch-moralischen Zustandes, des konsequenten Vorgehens gegen alle Erscheinungen der Störung sozialistischer Beziehungen, der Erhöhung der Qualität der Führungs- und Leitungstätigkeit und der Anleitung und Kontrolle festgelegt.
Ebenfalls seit November 1985 traten unter Unteroffizieren der 4. Grenzkompanie Blankenstein des Grenzregimentes 10 Plauen/GK-Süd Erscheinungen der sogenannten negativen Traditionspflege auf, die sich hauptsächlich gegen zwei in die Einheit zuversetzte Unteroffiziere des ersten Diensthalbjahres (beide Mitglieder der SED) richteten. Da sich diese Unteroffiziere nicht bedingungslos den »Regeln« der negativen Traditionspflege unterordneten, wurden sie durch Unteroffiziere des dritten Diensthalbjahres (die Mehrzahl der Beteiligten sind Mitglieder der SED) fortgesetzt beleidigt, diskriminiert und körperlich misshandelt (schmerzhaftes Verdrehen der Arme, Beine und Ohren; Würgen am Hals).
Die Tätlichkeiten begingen hauptsächlich zwei Unteroffiziere des dritten Diensthalbjahres (20, Mitglied der SED; 21; beide Gruppenführer).
Schikanen, wie z. B. unnötiges Revierreinigen und sogenanntes Probewecken, führten dazu, dass die Geschädigten übermüdet ihren Grenzdienst versahen.
Die Untersuchungen ergaben, dass diese Schikanen nicht politisch motiviert waren und kein Zusammenhang zur Mitgliedschaft in der SED bestand.
Dem Kompaniechef und seinen Stellvertretern sowie dem stellvertretenden Parteisekretär und dem zuständigen Zugführer waren diese schikanösen Handlungen bekannt, wurden jedoch hinsichtlich ihrer schädigenden Auswirkungen bei den unmittelbar davon betroffenen Unteroffizieren und den negativen Folgen für die politische Stabilität, die Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft des militärischen Kollektivs unterschätzt. Es erfolgte keine Meldung über diese Erscheinungen und bis zur Aufnahme der Untersuchungen wurden keine Maßnahmen zur Unterbindung dieser schikanösen Handlungen eingeleitet.
Im Ergebnis der im Zusammenwirken mit einer Kommission des Grenzregimentes 10 und dem zuständigen Militärstaatsanwalt geführten Untersuchungen wurde ein Unteroffizier (SED, im Ergebnis des zwischenzeitlich durchgeführten Parteiverfahrens aus der SED ausgeschlossen) mit zwei Monaten Dienst in der Disziplinareinheit und ein Unteroffizier (FDJ, ein Verbandsverfahren wurde eingeleitet) mit zehn Tagen Arrest bestraft.
Der Kompaniechef wurde im Zusammenhang mit seiner insgesamt unzureichenden Führungstätigkeit von seiner Funktion entbunden. Gegen ihn wurde ein Parteiverfahren eingeleitet.
Die Vorkommnisse wurden durch den Kommandeur des Grenzregimentes 10 mit allen Kompaniechefs und differenziert im Unteroffizierskorps ausgewertet.
Des Weiteren erfolgte durch den Kommandeur des Grenzkommandos Süd mit den Kommandeuren und den Stellvertretern für politische Arbeit der Grenzregimenter eine Auswertung und die Festlegung weiterer Maßnahmen – insbesondere zur effektiveren Gestaltung der politisch-ideologischen und erzieherischen Arbeit sowie zur vorbeugenden Verhinderung derartiger Erscheinungen.
Aufgrund der in jüngster Zeit festzustellenden Zunahme von Erscheinungen und Tendenzen der negativen Traditionspflege mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Störung sozialistischer Beziehungen in den betreffenden militärischen Kollektiven, der damit verbundenen ernsten Gefahren für die Beeinträchtigung der Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft wird empfohlen,
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über die Kommandeure, die Stellvertreter für politische Arbeit und die Militärstaatsanwälte sowie unter Nutzung der Potenzen der Partei- und FDJ-Organisationen die Einleitung geeigneter und wirksamer Maßnahmen zu veranlassen, energisch gegen das Entstehen derartiger Erscheinungen vorzugehen, mit politisch-ideologischen und erzieherischen Mitteln und Methoden die vorbeugende Arbeit zu aktivieren und konsequent gegen Initiatoren und Organisatoren sowie diejenigen Vorgesetzten einzuschreiten, die solche Erscheinungen dulden oder unterstützen;
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alle derartigen und anderen Erscheinungen der negativen Traditionspflege begünstigenden Umstände und Bedingungen zügig und umfassend herauszuarbeiten und wirksame Maßnahmen zu deren Beseitigung bzw. Überwindung zu treffen;
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nach Abschluss der Untersuchungen zu derartigen Erscheinungen in differenzierter Form gezielte öffentlichkeitswirksame Auswertungen in den betreffenden militärischen Kollektiven vorzunehmen und
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die Anstrengungen dahingehend zu erhöhen, die Traditionspflege in den Streitkräften und den Grenztruppen in positiven Richtungen zu organisieren, die Vorbildwirkung Vorgesetzter und dienstälterer Unterführer und Soldaten stärker zum Tragen zu bringen und mit stimulierenden Mitteln und Methoden die Entwicklung echter sozialistischer Beziehungen in allen militärischen Kollektiven zu aktivieren.