Schüsse an der Grenze in Hohen Neuendorf
27. Juni 1986
Information Nr. 303/86 über die Anwendung der Schusswaffe durch einen Angehörigen der Grenztruppen der DDR im Grenzabschnitt Hohen Neuendorf, Kreis Oranienburg, Bezirk Potsdam, am 25. Juni 1986
Am 25. Juni 1986, gegen 17.45 Uhr, gab der Angehörige der Grenztruppen der DDR, Soldat [Name 1, Vorname] (24), Posten in der 2. Grenzkompanie, Grenzregiment 38, Hennigsdorf/Grenzkommando Mitte, nach pflichtwidrigem Verlassen des Postenturmes im Grenzabschnitt Hohen Neuendorf, Kreis Oranienburg, Bezirk Potsdam, insgesamt 30 Schuss aus der Maschinenpistole, parallel zu dem Hinterland-Sicherungszaun, in das Erdreich ab.
Wie die bisher durch das MfS geführten Untersuchungen ergaben, war [Name 1] gemeinsam mit dem Postenführer, Gefreiter [Name 2, Vorname] (20) am 25. Juni 1986, ab 14.00 Uhr, auf dem Postenturm an der Staatsgrenze der DDR im Einsatz.
Nach vorangegangenen allgemeinen Gesprächen während der Dienstdurchführung bekundete [Name 1] gegenüber seinem Postenführer, ein Vorkommnis mit Schusswaffengebrauch zu provozieren mit dem Ziel, aus der grenzsichernden Einheit versetzt zu werden. Zugleich forderte er den Postenführer auf, mit ihm den Postenturm zu verlassen. Durch den Postenführer wurde ein derartiges Ansinnen abgelehnt und versucht, [Name 1] von der geäußerten Absicht einer Anwendung der Schusswaffe abzubringen.
Seinen Aussagen zufolge habe er diese Äußerung des [Name 1] als nicht ernst gemeint aufgefasst.
Gegen 17.45 Uhr verließ [Name 1] entgegen bestehenden Weisungen, den Postenbereich nicht einzeln zu verlassen, unter Mitführung seiner Maschinenpistole und 60 Patronen sowie einer Signalpistole bewusst den Postenturm und forderte den Postenführer auf, dieses Dienstvergehen zu melden.
Während der Postenführer dieses Vergehen dem Führungspunkt meldete, gab [Name 1] – er befand sich zu diesem Zeitpunkt zwei Meter außerhalb des Postenturmes, ca. 20 Meter vom Verlauf der Staatsgrenze entfernt – die eingangs angeführten 30 Schuss ab.
Dem seitens des Postenführers erteilten Befehl, unverzüglich das Schießen einzustellen, die Schusswaffe, Munition und Signalpistole abzulegen und sich in Richtung Hinterland-Zaun zu bewegen, leistete [Name 1] sofort Folge. Nachdem er sich ca. 20 Meter von seinem Standort in die befohlene Richtung begeben hatte, fiel er bewusstlos zu Boden.
Er wurde – da krankhafte Symptome zu erkennen waren – unverzüglich dem Med.-Punkt zugeführt und von dort aus in das Armeelazarett nach Potsdam eingeliefert.
Durch die behandelnden Ärzte wurde zweifelsfrei Hitzekollaps diagnostiziert. [Name 1] ist zurzeit noch nicht vernehmungsfähig.
Nach den Aussagen des Postenführers ist ein bewusstes Handeln des [Name 1] mit dem Ziel, eine Abversetzung aus der grenzsichernden Einheit zu erreichen, nicht auszuschließen.
Während des Vorkommnisses hielten sich in Berlin (West) zwei Personen in unmittelbarer Nähe des vorderen Sperrelementes (Streckmetallzaun) der Grenzsicherungsanlagen auf und beschimpften die Angehörigen der Grenztruppen der DDR.
Gegen 20.45 Uhr tätigten drei weitere Personen von Berlin (West) aus Fotoaufnahmen in Richtung des Ereignisortes.
Westliche Massenmedien berichteten in verleumderischer Art und Weise über das Vorkommnis.1
Zum Persönlichkeitsbild des Postenpaares wurde bekannt:
Der Posten Soldat [Name 1] entstammt einem progressiven Elternhaus. Seine Mutter ist als Direktorin einer Schule, sein Vater als Gartenbauingenieur tätig. Beide Elternteile gehören der SED an. Nach Abschluss der Facharbeiterausbildung arbeitete [Name 1] bis zu seiner Einberufung in die Grenztruppen der DDR als Bautischler in einer PGH Bau.
Während dieser Zeit nahm er ein Meisterstudium auf und schloss bereits die theoretischen Prüfungen für Handwerksmeister mit Erfolg ab.
Die Absolvierung der praktischen Prüfungen ist nach Beendigung des Wehrdienstes vorgesehen. Seit Oktober 1985 ist [Name 1] Angehöriger der Grenztruppen der DDR im Grundwehrdienst und wird im Kollektiv anerkannt und geachtet. Er ist politisch interessiert und beteiligt sich aktiv an politischen Gesprächen.
Seine Dienstdurchführung ist jedoch differenziert zu bewerten. Obwohl er wegen guter militärischer Pflichterfüllung bereits mehrfach belobigt wurde, erfolgte am 24. Juni 1986 eine Bestrafung mit drei Wochen Ausgangssperre wegen Schlafens während des Grenzdienstes.
[Name 1] gehört der FDJ, der DSF und dem DTSB an. Er ist aktiver Boxer.
Der Postenführer Gefreiter [Name 2] erlernte den Beruf eines Schlossers und übte diese Tätigkeit bis zu seiner Einberufung in die Grenztruppen der DDR im Monat Mai 1985 in der LPG Pflanzenproduktion Jakobsdorf, Kreis Stralsund, aus.
Von seinen Eltern (Vater Rentner, Mutter LPG-Bäuerin; beide Mitglieder der DBD) wurde [Name 2] religiös im Sinne des evangelischen Glaubensbekenntnisses erzogen. Gelegentlich nimmt [Name 2] an kirchlichen Veranstaltungen teil, ohne jedoch aktiv in Erscheinung zu treten. Er ist Mitglied der FDJ.
Im Kollektiv seiner Einheit ist [Name 2] sehr ruhig und zurückhaltend.
Er führte bisher seinen Dienst ordnungsgemäß durch.
Die Untersuchungen zur zweifelsfreien Klärung des Motivs, der Ursachen und begünstigenden Bedingungen sowie Umstände werden durch das MfS fortgeführt.