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Skandal um den stellvertretenden Generalsekretär der AdW (4)

7. August 1986
Information Nr. 365/86 über weitere Feststellungen zu den Vorgängen um Prof. Dr. Meißner in Westberlin und in der BRD

[Faksimile von Deckblatt]

Ergänzend zu den in den Informationen vom 11. Juli 1986 (Nr. 328/86) und 18. Juli 1986 (Nr. 339/86) dargelegten Erkenntnissen über die Vorgänge um Prof. Dr. Meißner1 in Westberlin und in der BRD wird nachstehend – basierend vor allem auf seinen Aussagen nach Rückkehr in die DDR – über weitere bekannt gewordene Umstände und Zusammenhänge des Ablaufs und Inhalts seiner Feindkonfrontation informiert.

Aus seinen Aussagen geht hervor, dass er durch die für ihn überraschende Eskalation der Vorgänge, den Vorwurf eines Warenhausdiebstahls und vor allem den nachfolgenden Vorhalt nachrichtendienstlicher Agententätigkeit, verbunden mit der Androhung einer langjährigen Haftstrafe und massiver Druckausübung in eine Art Schock- bzw. Konfliktsituation geriet. Dadurch kam es zu einer für ihn normalerweise überschaubaren Situation ohne zwingendes Motiv zu Fehlverhaltensweisen.

Seine Handlungsweise gegenüber Polizei und Staatsschutz steht im Widerspruch zu seinem bisherigen Auftreten im nichtsozialistischen Ausland sowie zu den ihm bekannten Verhaltensrichtlinien für Auslands- und Reisekader der DDR. Er hat nicht energisch von seinen Rechten und Möglichkeiten der Aussageverweigerung und denen als Inhaber eines Diplomatenpasses Gebrauch gemacht. Prof. Dr. Meißner benötigte offensichtlich längere Zeit, um sich über die umfassende Tragweite und die politischen Auswirkungen seines Fehlverhaltens klar zu werden.

Nach bisherigen Angaben Prof. Dr. Meißners wurde er vom BND einer ca. zwölfstündigen Erstbefragung (vom 11. bis 14. Juli mit Unterbrechungen) unterzogen, die – nach vorliegenden Erkenntnissen – für den BND die Ausgangsgrundlage für vorgesehene weitere mehrwöchige differenzierte und vertiefende Befragungen bilden sollte, zu denen es infolge des angestrebten und zielstrebig betriebenen Absetzens Prof. Dr. Meißners vom BND und seiner Rückkehr in die DDR nicht mehr kam.

Während der genannten Erstbefragung machte Prof. Dr. Meißner seinen Angaben zufolge gegenüber dem BND Aussagen auf der Grundlage persönlicher Eindrücke zu nachstehenden Themenkomplexen:

  • zu seiner persönlichen Entwicklung, seinem persönlichen Umfeld, zu Freunden und Bekannten;

  • zu Vorgängen innerhalb der Partei- und Staatsführung der DDR, insbesondere zu angeblich vorgesehenen Kaderveränderungen, wie zu Hintergründen des Ausscheidens des Genossen Naumann2 aus dem Politbüro des ZK der SED (diese Aussagen entsprachen den bisher von gegnerischen Medien veröffentlichten Spekulationen);

    • zur nach seiner Ansicht erfolgenden Vorbereitung des Genossen Sölle3 für die Funktion des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR (als eine mögliche Variante für die Nachfolge des Genossen Stoph);4

    • zur angeblichen Ablösung des Genossen Hager5 durch Genossen Otto Reinhold;6

    • zum erfolgten Einsatz des Genossen Schwertner7 in die Funktion der Genossin Glende.8

      Hierzu ist in Rechnung zu stellen, dass Prof. Dr. Meißner jeweils konkrete Fragestellungen des BND beantwortete und, wie es bereits erkennbar ist, der Gegner Veröffentlichungen lanciert, die weit über die Aussagen Prof. Dr. Meißners hinausgehen.

  • Angaben zu seinen dienstlichen Aufgaben, u. a. über internationalistische Aktivitäten im Rahmen seiner Funktion wie Dienstreisen in die VR China, in die SR Vietnam sowie internationale Beziehungen zu den Akademien der Wissenschaften anderer Staaten.

  • Angaben zu den Vertragsbeziehungen der Akademie der Wissenschaften der DDR zur BRD, u. a. zur Position der DDR hinsichtlich der Anwendung des kürzlich unterzeichneten Abkommens über kulturelle Zusammenarbeit zwischen der DDR und der BRD auf dem Gebiet der Wissenschaftsbeziehungen.9

Zur Finanzierung der SED habe er auf Befragen als Quellen Mitgliederbeiträge und Spenden sowie Parteibetriebe genannt und ausdrücklich den Staatshaushalt als Finanzierungsquelle ausgeschlossen.

Parallel zur genannten Erstbefragung kam es nach Aussagen von Prof. Dr. Meißner am 12. Juli 1986 zu einer ca. vierstündigen Expertenbefragung durch den BND zu seinen Kenntnissen über das MfS.

Dabei bekräftigte er die bereits dargelegte Position, dass er durch seine hohe offizielle Stellung keine inoffizielle Arbeit für das MfS geleistet habe und seine Kenntnisse über das MfS deshalb nur allgemein sind.

Seitens des MfS habe es zu ihm Kontakte gegeben, wie das aus seiner Sicht auch bei anderen Persönlichkeiten in bestimmten Positionen der Fall sein könnte. Sein persönlicher Kontakt zum MfS habe darin bestanden, über im Rahmen seiner Reisetätigkeit gewonnene Erkenntnisse und Einschätzungen zu politischen und ökonomischen Problemen zu informieren.

Nach den Aussagen von Prof. Dr. Meißner habe er – in Beantwortung an ihn gerichteter Fragen – dem BND-Experten erklärt, dass er keine personenbezogenen Aufträge, keine nachrichtendienstliche Ausbildung und auch keine nachrichtendienstlichen Hilfsmittel erhalten hat. Er habe auch keine Kenntnisse über Beziehungen und Verbindungen zwischen der Akademie der Wissenschaften und dem MfS.

Zusammenfassend ist nach Wertung aller objektiven und subjektiven Faktoren einzuschätzen, dass das zeitweilige Fehlverhalten von Prof. Dr. Meißner vor der Westberliner Polizei, dem Staatsschutz und dem BND nicht von Verratsabsichten getragen war, sondern Resultat einer zugespitzten Drucksituation, charakterlicher Labilität und politischer Fehleinschätzung seiner Lage war. Nach Abklingen dieser extremen Drucksituation setzten sich bei ihm politische Vernunft und der Wille zu verantwortungsvollem Handeln durch, sodass Prof. Dr. Meißner sein gesamtes Verhalten dem Bestreben unterordnete, unter allen Umständen einen Weg zurück in die DDR zu finden.

Prof. Dr. Meißner ist sich darüber im Klaren, dass eine NSW-Reisetätigkeit aufgrund zu erwartender weiterer Angriffe des Feindes auf seine Person nicht mehr möglich ist.

Hinsichtlich seiner weiteren Tätigkeit geht er davon aus, dass die Entscheidung darüber von der Abteilung Wissenschaft des ZK der SED und der Akademie der Wissenschaften getroffen wird. Seiner Auffassung nach könnte eine Weiterführung seiner jetzigen Funktion bis zum Ende der laufenden Wahlperiode (noch ca. 1½ Jahre) in Erwägung gezogen werden.

Er hält danach eine wissenschaftliche Tätigkeit in der Akademie der Wissenschaften oder in einer Hochschuleinrichtung im Raum Berlin für anstrebenswert.

Vom 4. August bis 4. September 1986 befindet sich Prof. Dr. Meißner im Jahresurlaub.

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    [ohne Datum]
    Hinweis zur gegenwärtigen Situation des Waldzustandes auf dem Territorium der DDR, zur Wirksamkeit bisher eingeleiteter Maßnahmen bei der Waldpflege und zur Schaffung von Ordnung und Sauberkeit in Schwerpunktgebieten [K 1/166]

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    6. August 1986
    Information Nr. 364/86 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 28. Juli 1986 bis 3. August 1986