Verbreiten von Hetzblättern durch Schüler in Berlin
21. Februar 1986
Information Nr. 82/86 über das Verbreiten selbstgefertigter Hetzblätter durch zwei Schüler einer POS aus der Hauptstadt der DDR, Berlin, in Wohnhäusern verschiedener Straßen im Stadtbezirk Berlin-Pankow
Am 29. Januar 1986 wurden die Schüler der Klasse 9c der 25. POS in Berlin Pankow, [Name 1, Vorname] (14, Fähnrichbewerber), wohnhaft 1100 Berlin, Schonensche Straße [Nr.] und [Name 2, Vorname] (14), wohnhaft 1100 Berlin, Arnold-Zweig-Straße [Nr.], beide Mitglieder der FDJ, als Täter für das Verbreiten von ca. 80 handschriftlich gefertigten Hetzblättern ermittelt, die sie im Zeitraum vom 21. bis 25. Januar 1986 in Hausbriefkästen von Wohnhäusern verschiedener Straßen in der Umgebung ihrer Wohnhäuser im Stadtbezirk Berlin-Pankow abgelegt hatten.
Die in acht Varianten textlich unterschiedlich abgefassten Hetzblätter sind inhaltlich gegen die Volkswahlen am 8. Juni 1986,1 verbunden mit Angriffen gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, das Bündnis DDR-UdSSR sowie die Grenzsicherungsmaßnahmen gegenüber der BRD gerichtet und jeweils mit der Aufschrift »Realistische Partei Deutschlands« versehen.
Gegen die genannten Jugendlichen wurden Ermittlungsverfahren wegen öffentlicher Herabwürdigung gemäß § 220 StGB2 ohne Haft eingeleitet.
Die geführten Untersuchungen ergaben:
[Name 1] wurde infolge der Scheidung der Ehe seiner Eltern gemeinsam mit vier weiteren Geschwistern ab 1972 durch seinen Vater (43, Facharbeiter für Umschlagtechnik im Bahnpostamt Berlin), in dessen Haushalt er gegenwärtig noch lebt, erzogen. Bedingt durch Schichtarbeit und starken Alkoholgenuss des Vaters blieb [Name 1] in seiner Freizeit im Wesentlichen sich selbst überlassen. Eine positive politisch-ideologische Einflussnahme auf ihn seitens des Vaters erfolgte nicht. [Name 1] verfolgte in seiner Freizeit regelmäßig Sendungen des BRD-Fernsehens, wobei ihn insbesondere Abenteuer- und historische Filme, in denen starke und sich gegenüber ihrer Umwelt konsequent durchsetzende Persönlichkeiten im Mittelpunkt standen, faszinierten.
Darüber hinaus machte er sich die in entsprechenden Sendungen vermittelten Anschauungen über angebliche Vorzüge des imperialistischen Herrschaftssystems, der »westlichen Demokratie« sowie revanchistischen und nationalistischen Argumentationslinien im Zusammenhang mit der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu eigen.
Im Ergebnis dieser ideologischen Einflüsse entwickelte sich bei ihm eine ablehnende Haltung zur Existenz zweier deutscher Staaten, der damit im Zusammenhang stehenden Grenzsicherung seitens der DDR, zur Mitgliedschaft beider deutscher Staaten in unterschiedlichen militärischen Bündnissen und zum Wahlsystem in der DDR.
Die dazu im Schulunterricht und in gesellschaftlichen Veranstaltungen vermittelten Erkenntnisse schätzte er als »unrealistisch« ein. Äußerungen über seine tatsächlichen Auffassungen gegenüber Mitschülern wurden von diesen als »Spinnerei« abgetan und toleriert, weswegen hierüber auch keine Informationen an die Lehrer oder Auseinandersetzungen im FDJ-Kollektiv erfolgten. Gegenüber seinen Lehrern verschwieg [Name 1] seine tatsächliche politische Einstellung und gab vor, eine positive politisch-ideologische Grundhaltung zu haben, was diese durch sein Vorhaben, eine militärische Ausbildung als Fähnrich erhalten zu wollen, untermauert glaubten. Tatsächlich beabsichtigte er seinen Aussagen zufolge jedoch, Fähnrich zu werden, um sich erforderliche militärische Kenntnisse für einen von ihm angeblich beabsichtigten »späteren Militärputsch« anzueignen.
Auf der Grundlage seiner Auffassungen, verbunden mit Abenteuertum und dem Bestreben, Führungsanspruch über andere zu erlangen – was ihm infolge seiner nur mittelmäßigen schulischen Leistungen nicht möglich war –, entwickelte [Name 1] den Plan, eine von ihm als »Realistische Partei Deutschlands« bezeichnete Gruppierung zu bilden. Die genannte Bezeichnung wählte er, weil er seine Auffassungen im Gegensatz zu den in der Schule und gesellschaftlichen Organisationen vermittelten für »realistisch« hielt. Im Rahmen dieser Gruppierung wollte er seinen »Führungsanspruch« verwirklichen und seine Positionen öffentlichkeitswirksam bekannt machen. Zur Verwirklichung dieses Planes sprach [Name 1] seinen Mitschüler [Name 2] bezüglich einer Mitgliedschaft in der Gruppierung an.
[Name 2], bei dem es sich um einen Einzelgänger mit Kontaktschwierigkeiten und noch schwacher Ausprägung der Persönlichkeit handelt, wuchs in geordneten Familienverhältnissen auf. Er befindet sich seit mehreren Jahren wegen Migräneerscheinungen in neuropsychiatrischer Behandlung.
Auch er blieb aufgrund arbeitsmäßiger Belastung seiner Eltern ([Alter und Berufe der Eltern]) in der Freizeit häufig sich selbst überlassen und informierte sich mit Duldung seiner Eltern über politische Ereignisse anhand des BRD-Fernsehens. Eine Auseinandersetzung über ideologische Probleme fand in seinem Elternhaus nur unzureichend statt. Bei der Einflussnahme der Eltern auf ihn standen Erziehungsziele wie Ordnungsliebe und Strebsamkeit ohne Bezug zur sozialen Umwelt im Vordergrund. Im Ergebnis des Empfangs politischer Sendungen des Westfernsehens entwickelten sich bei [Name 2] eine politisch unklare Haltung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung sowie durchgängig Zweifel an der Richtigkeit der Politik der DDR. Diese Zweifel fand er durch Gespräche mit [Name 1] bestätigt und schloss sich dessen Auffassungen kritiklos an, obwohl es ihm am notwendigen Wissen zu deren Beurteilung mangelte. In dem Bestreben, seine freundschaftlichen Beziehungen zu [Name 1] zu festigen, erklärte er sich zur Mitwirkung in der geplanten Gruppierung bereit.
[Name 1] sprach außerdem fünf weitere namentlich bekannte Klassenkameraden bezüglich einer Mitwirkung in dieser beabsichtigten Gruppierung an, die jedoch sein Vorhaben als »kindische Spinnerei« einschätzten und eine Beteiligung ablehnten. Ihre politische Einsicht reichte aber nicht soweit, dieses Ansinnen in der FDJ-Gruppe zu behandeln oder den Lehrkörper davon in Kenntnis zu setzen.
[Name 1] fertigte für sich und [Name 2] »Mitgliedsbücher«, »Registrierkarten« und andere Unterlagen für die beabsichtigte Gruppierung an, worunter sich auch eine von ihm aufgestellte Liste ihm unsympathischer Lehrer und Mitschüler befand, die er nach »Übernahme der Macht« zur »Hinrichtung« vorgesehen hatte.
In dem Bestreben, die »Existenz« der »Partei« in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, entwickelte [Name 1] Anfang Januar 1986 den Plan, Hetzblätter herzustellen und zu verbreiten, in deren Inhalt er seine Auffassungen schlagwortartig darlegen wollte. Am 21. Januar 1986 kam [Name 1] auf seine Initiative mit [Name 2] überein, die Eingangs genannten Hetzblätter herzustellen und in der bereits genannten Form zu verbreiten.
Die arbeitsteilig handelnden Täter verfolgten mit dem Verbreiten der von ihnen gefertigten Hetzblätter neben der Vortäuschung der Existenz einer »Realistischen Partei Deutschlands« in der DDR das Ziel, die Empfänger der Hetzblätter zum »Nachdenken über die Richtigkeit der Politik der DDR« zu veranlassen und eine weitere Propagierung ihrer Auffassungen durch diese zu erreichen.
Über die erste am 21. Januar 1986 erfolgte Verbreitung von Hetzblättern informierte [Name 1] zwei der fünf Mitschüler, die er zuvor bereits bezüglich einer Mitwirkung in der »Gruppierung« angesprochen hatte. Da diese von anlaufenden Maßnahmen der Volkspolizei zur Ermittlung der Täter in dieser Sache in ihrem Wohngebiet Kenntnis erhalten hatten, unterließen sie aus Furcht vor Konsequenzen einer Mitwisserschaft die Informierung anderer Personen.
Am 30. Januar 1986 erfolgte im Zusammenwirken mit dem zuständigen Staatsanwalt und dem Direktor der Schule in Anwesenheit der Mutter des [Name 2] eine erste offensive Auswertung der Straftat vor dem Parteikollektiv der Schule3 und ausgewählten Mitgliedern der FDJ aus der Klasse der jugendlichen Täter.
Eine psychologische Begutachtung des Geisteszustandes von [Name 1] und [Name 2] ergab deren Schuldfähigkeit. Das Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow verurteilte am 5. Februar 1986 [Name 1] zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, ausgesetzt auf eine einjährige Bewährungszeit, und verfügte seine Heimeinweisung.
Gegenüber [Name 2] wurde als Maßnahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit die Auferlegung besonderer Pflichten gemäß § 69 StGB (Durchführung unbezahlter gemeinnütziger Arbeit in der Freizeit)4 angewandt.
Es ist vorgesehen, Anfang März 1986 auf der Grundlage eines entsprechenden Maßnahme-Planes der Schulleitung die offensive Auswertung der Straftat in allen Klassen der Schule fortzusetzen.